Der "Tiger Rag" ist nicht zu hören
In der Nervenheilanstalt von Louisiana machen die Patienten im Garten schlechte Musik. Da steigt einer, der hier seit 24 Jahren lebt und kaum ein Wort gesprochen hat, auf die Bühne, schnappt sich eine Trompete und spielt den "Tiger Rag".
Bevor das verdutzte Personal zu applaudieren beginnen kann, läuft er in sein Zimmer, legt sich ins Bett, und ein paar Wochen später ist er dann tot.
Das ist die emotionalste Stelle im Roman "Tiger Rag" über "Buddy" Bolden (1877–1931), den Vater aller Trompetenspieler, den angeblich allerersten Bandleader des Jazz – um 1900 in New Orleans.
Michael Ondaatje hat ihn in "Buddy Boldens Blues" 1975 porträtiert. In einer erfundenen Geschichte, denn man weiß ja nicht einmal, ob er hauptberuflich Barbier war oder Pflasterer.
Er spielte das (dreifach versilberte) Kornett am lautesten, am deutlichsten. Das geht aus einem Interview mit seinem Freund, Posaunist Willie Cornish, aus dem Jahr 1942 hervor.
Aber hören kann man das nicht: Es gibt keine Aufnahme, obwohl schon damals andere – wie Kid Ory, Manuel Perez – ihre Songs auf schwarze Edison-Wachswalzen verewigen ließen.
Tanzbarer
Und darum geht’s in der Fiktion des Amerikaners Nicholas Christopher gab es Walzen: "King Bolden" und seine Band haben den "Tiger Rag" am 5. Juli 1904 eingespielt. Drei Takes existierten demnach.
Ein wildes Stück Jazz.
Alle Großen haben ihn später gespielt.
Nicholas Christopher hat daraus unter dem gleichnamigen Romantitel einen Swing gemacht. Ist halt bekömmlicher. Tanzbarer (beim Lesen, gewissermaßen). Hätt’ aber wirklich nicht sein müssen.
Bei ihm vibriert New Orleans nicht. Bolden ist eine Nebenfigur. Seine Nachfolger Sydney Bechet und Louis Armstrong kommen im Buch kurz vor, aber sie leben nicht. Der Autor braucht sie nicht.
Er kümmert sich um das Verschwinden der Tondokumente. Eine der drei Walzen ist sogleich unter dem Bett einer Prostituierten "in Verstoß geraten" ...
Parallel wird von der Gegenwart in South Carolina, Philadelphia, New York City erzählt.
Von einer Anästhesistin, die, ohne es zunächst zu ahnen, mit dem "Tiger Rag" eng verbunden ist – durch ihren Vater.
Aber dass sie geschieden ist und den Boden unter den Füßen verliert, dass sie ein Ein-Kilo-Porterhouse-Steak im Restaurant bestellt, ohne auch nur einen Bissen zu essen – der Autor hätte sich so etwas für ein anderes Buch aufheben sollen.
Jetzt wäre die Zeit für viel Musik gewesen.
KURIER-Wertung:
INFO: Nicholas Christopher: „Tiger Rag“ Taschenbuch. Übersetzt von Pociao. dtv. 320 Seiten. 15,40 Euro.
Die Evolutionsgeschichte, die in Bildmontagen erzählt wird, beeindruckt 1.) überhaupt und 2.) wegen der Querverbindungen. Der deutsche Zeichner Jens Harder scheut sich nicht, in seinen Illustrationen Clint Eastwood in der Altsteinzeit zu platzieren und an die Entdeckung des Feuers gleich einen Atompilz zu hängen. Auch wenn 1,5 Millionen Jahre dazwischen liegen, es gehört alles zusammen. „Beta“ ist schon sein zweites großes Werk. In „Alpha“ illustrierte er den Urknall und Bakterien – und einen Mann mit Gewehr in der Hand. So weit sind wir.
KURIER-Wertung:
INFO: Jens Harder: „Beta“ ...civilisations volume 1"Carlsen Verlag. 352 Seiten. 51,30 Euro.
Wenn ein Privatdetektiv den Auftrag bekommt, eine Frau zu beschatten – und diese Frau ist seine eigene Mutter; und wenn diese Mutter dabei beobachtet wird, wie sie ihren zweiten Sohn, der seit einem Unfall keine Beine hat, auf den Rücken schnallt und mit ihm in ein Bordell geht, damit er nicht „in Saft“ gerät (bzw. schon) ... dann ist das mitunter befremdend, aber es geht „bloß“ um die Liebe. Sie wird vom südkoreanischen Autor wie ein Zauberreich behandelt, und dabei hilft ihm ein Storaxbaum im Park, dessen glatter Stamm an den Körper einer Frau erinnert.
KURIER-Wertung:
INFO: Lee Sung-U: „Das verborgene Leben der Pflanzen“ Übersetzt von Ki-Hyang Lee. Unionsverlag. 230 Seiten. 20,50 Euro.
Einer der besten Krimis des Jahres bisher – wenn es um permanente Spannung geht. Das beginnt unverzüglich in der Gefängniszelle eines Serienmörders, eines so freundlich wirkenden alten Mannes, dem man sich nur mit Ohrenstöpsel nähern sollte. Es geht um entführte Kinder, die in Särgen unter der Erde „aufbewahrt“ werden. Lars Kepler ist Pseudonym eines schwedischen Ehepaares, das komplexe Thriller baut und Drehbuch-ähnlich schreibt. Persönlicher Lieblingssatz: „Man behauptet, ich bin ein Monster, aber ich bin nur ein Mensch.“
KURIER-Wertung:
INFO: Lars Kepler: „Der Sandmann“ Übersetzt von Paul Berf. Lübbe Verlag. 528 Seiten. 19,99 Euro.
Damit er nicht verzweifelt, schreibt er; und vor allem schreibt er (in den Kaffeehäusern Jerusalems) seit 50 Jahren Bücher über die Shoah und über sein Leben. Er erinnert und deutet den Holocaust. Der Roman „Auf der Lichtung“ des heute 82-jährigen Aharon Appelfeld ist bei den jüdischen Partisanen in den Sümpfen und Bergen der Ukraine. Die meisten sind aus dem Getto geflüchtet, nun befreien sie Juden aus „Todeszügen“ – verwundert, dass sie Kämpfer sind. „Der Mensch weiß nicht, was in ihm verborgen ist, bevor es zum Ausbruch kommt."
KURIER-Wertung:
INFO: Aharon Appelfeld: „Auf der Lichtung“ Übersetzt von Mirijam Pressler. Rowohlt Berlin. 256 Seiten. 20,60 Euro.
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