Der Sound des Krieges
„I wanna ask you: Stop the unholy war. I wanna ask you: Do you know what it was for?“
(Aus „I’m Gone“ von Roxolana)
Roxolana war bis vor wenigen Monaten so etwas wie die ukrainische Entsprechung einer Helene Fischer, nicht nur optisch: Harmlose Popsongs, die sich auch zur Bewerbung für den Song Contest eignen würden. Tatsächlich befand sich Roxolana in der ukrainischen Vorausscheidung zum heurigen ESC in Turin.
Es kam anders: Sie blieb zu Hause. Auch als der Krieg das Land überrollte.
Von Kiew aus übernimmt sie eine völlig neue und unerwartete Rolle: Die der musikalischen Widerstandskämpferin. Ihre Texte drehen sich um den Krieg. Ihr Publikum sind heute Soldaten, die sie zu spontanen und geheimen Solidaritätskonzerten trifft. Und sie ist eine Fürsprecherin des Frauenkollektivs Dattalion, das aus dem Exil Videos und Fotos russischer Gräuel archiviert und dokumentiert.
KURIER: Wie gestaltet sich Ihr Leben in der Ukraine?
Roxolana: Kiew ändert sich von Tag zu Tag. Vor drei Wochen war es unglaublich leise, es gab keine Restaurants und es hatten vielleicht drei Cafés offen. Es gab haufenweise Militärposten und die Leute hatten Angst voreinander. Heute sind hier zwar nicht so viele Menschen wie vor dem Krieg, aber für mich fühlt es sich sicher an, schön und ruhig.
Wie hat sich ihre Arbeit als Sängerin verändert?
Das Leben ist natürlich nicht dasselbe. Wir machen aber weiter mit der Produktion von Songs. Die ukrainischen Radiosender sind wieder on air und wir versuchen ihnen, Inhalte zu liefern. Sie fragen nach motivierenden Songs. Außerdem geben wir rund um Kiew Konzerte für das Militär.
Wo finden diese Auftritte statt?
Das ist geheim. Es gibt etwa alle zwei Tage ein Konzert, drei Stunden von Kiew entfernt. Auf Militärbasen, in Wäldern. Es muss sehr sicher ablaufen, deswegen geben wir auch keine Informationen darüber weiter.
Ihre Arbeit als Sängerin hat sich also demnach weiterentwickelt als eine Art Motivatorin für Volk und Truppen.
Die Soldaten sind so glücklich! Ich singe auch viele Tanz-Songs und die performen Breakdance dazu. Es ist eine großartige Erfahrung. Danach reden wir und sie erzählen, wie viel Kraft es ihnen gibt. Für mich ist das eine große Sache, denn sie leisten sehr viel für das Land.
Ihre neuen Songs drehen sich jetzt um den Krieg. Ein ziemlicher Einschnitt in ihrer Laufbahn.
Die Zeit seit dem Kriegsbeginn ist für mich wie ein einziger, langer Tag. Meine Freunde haben mir ein Video geschickt. Wir hatten angefangen, es zu drehen, bevor der Krieg begann. Es fühlt sich an wie ein komplett anderes Leben.
Wie empfinden Sie Ihre neue Rolle als Künstlerin im Krieg, wenn Sie für Soldaten bei Solidaritätskonzerten singen?
Es fühlt sich unglaublich an. Aus unserem Team hat kürzlich jemand festgestellt: „Wir geben ihnen zumindest ein Prozent mehr für ihre Missionen und ihre Arbeit.“ Militär war für mich immer weit weg, aber wenn man tatsächlich mit den Soldaten spricht, ihnen in die Augen sieht und ihre Hände fühlt, merkt man: Das sind Menschen wie meine Nachbarn. Außerdem: Wenn ich bei den Soldaten bin, kommen sie mir wie die Stars vor, nicht umgekehrt.
Die Ukraine stand wenig überraschend im Mittelpunkt des heurigen ESC. Wie wichtig ist der Bewerb für das Land?
Es ist sehr wichtig für uns, bei so großen internationalen Events aufzutreten. Die Menschen vergessen sonst unsere Situation, man gewöhnt sich zu schnell an die Nachrichten. Und ein Sieg ist immerhin ein kleiner Sieg in einem riesigen Krieg. Für mich war der Song Contest immer ein politischer Event.
Inwiefern? Weil Russland heuer nicht teilnehmen darf?
Ich denke, der Voting-Prozess ist sehr aussagekräftig – etwa darüber, wie gut die Beziehungen unterschiedlicher Länder zueinander sind. Und vor allem: Es gibt tolle Songs.
Spenden
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