Der Prophet der Geselligkeit: Virtuose Chris Thile kommt nach Wien

Der Prophet der Geselligkeit: Virtuose Chris Thile kommt nach Wien
Der US-Musiker, am 22. 10. im Konzerthaus, glaubt nicht mehr fest an Gott, aber an das Gute. Und ist überzeugt, es mit Musik bannen zu können.

Als Chris Thile im März 2017 erstmals ein Solo-Konzert im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses gab, war das eine Sternstunde. Es lag nicht nur an der atemberaubenden Virtuosität und der Leichtigkeit, mit der der US-Amerikaner mit seiner Stimme und seinem kleinen Instrument, der Mandoline, einen Bogen von Bach-Kompositionen zu Country- und Radiohead-Songs spannte: Seine Musik schien akustisch und atmosphärisch eine spezielle Resonanz jenseits der schieren Bewunderung auszulösen.

„Tatsächlich hat sich dieser Abend bei mir als eine der magischsten Bühnenerfahrungen, die ich jemals hatte, eingebrannt“, sagt der 41-Jährige im KURIER-Telefoninterview vor dem Start seiner Solo-Tour, die ihn am kommenden Samstag erneut in den Mozart-Saal führen wird. „Dieser Raum klingt wunderbar. Aber ich hatte viele weit weniger intensive Erfahrungen in Sälen, die genauso gut klangen. Es liegt an den Menschen, die kommen – sie haben Verständnis für das, was ich mache, vor allem aber offene Ohren. Du kannst spüren, dass sie für ein Abenteuer bereit sind.“

Der Prophet der Geselligkeit: Virtuose Chris Thile kommt nach Wien

Thile selbst ist mit seinem Forschergeist eine Ausnahmeerscheinung: Als Wunderkind verhalf er ab 1989 mit der Band Nickel Creek dem Bluegrass – jener uramerikanischen Musik, die sich auf Basis von irisch-schottischen Melodien, Blues- und Jazz-Einflüssen seit den 1940ern entwickelt hatte – zu neuer Popularität. Mit seiner Band Punch Brothers und vielen Kollaborationen, etwa mit dem Jazzpianisten Brad Mehldau oder dem Cellisten Yo-Yo Ma, sowie als musizierender Moderator der von 2016 bis 2020 laufenden Radiosendung „Live from Here“ erweiterte der vierfache Grammy-Preisträger sein Feld permanent.

„Für mich sind Live-Darbietungen gleichbedeutend mit Gemeinschaftlichkeit, ob ich nun auf der Seite des Gebers oder des Empfängers stehe“, erklärt Thile. „Wenn es gut läuft, verschwimmt die Grenze zwischen diesen Seiten in großartiger Weise. Solche Erfahrungen – und das Erlebnis im Mozart-Saal war eines davon – lassen mich daran glauben, dass Menschen am Ende eine Kraft für das Gute in der Welt sind. Auch wenn es gerade leicht ist, das Gegenteil zu denken. Aber ich bin unterwegs, um Beweise zu suchen, dass wir zu schönen Dingen fähig sind – und dass in der Schönheit Bedeutung liegt.“

Glauben und Zweifeln

Thiles jüngstes Album „Laysongs“ (deutsch: „Laienlieder“), das der aktuellen Konzerttour zugrunde liegt, kombiniert nun aber den Wunsch nach solch grenzüberschreitenden Erfahrungen mit einer sehr privaten Sache – der Aufarbeitung seines Umgangs mit Religion. In den Liedern geht es um Zweifel, Versuchungen – und den doch irgendwie tröstlichen Gesang in der Kirche.

„Ich bin in einem christlich-fundamentalistischen Haushalt aufgewachsen“, erzählt Thile, der sich heute als Agnostiker bezeichnet. „Tatsächlich hat Musik meine Weltsicht verändert. Je mehr ich unterwegs war und mit anderen Musikern spielte, desto diverser wurden die Gedanken in meinem Kopf. Ich habe nie wirklich rebelliert – aber die Religion meiner Jugend erschien mir irgendwann nur mehr als eine von vielen Perspektiven.“

Gemeinsamer Boden

Vor diesem Hintergrund appelliert Thile weiterhin, viele Perspektiven gelten zu lassen. „Derzeit ist es so viel leichter, nur mit denen zu reden, die die Welt so sehen wie wir“, sagt er. „Unsere Chance auf Transzendenz, Wachstum und Wandel wird so massiv eingeschränkt. Umso wichtiger sind Gelegenheiten, zu denen verschiedene Menschen zusammen kommen. Und Musik hilft – denn sie schleift Ecken ab. Vielleicht ist Instrumentalmusik dafür sogar besonders geeignet – es ist leichter, mit der Dissonanz unserer Gefühle umzugehen, wenn sie in Musik verpackt ist.“

Bluegrass, die Musikrichtung, in der Thile verwurzelt ist, sei "die vielleicht konfliktbeladenste Musik überhaupt", wenn es um den Inhalt der Texte und ihr Verhältnis zur Religion geht, erklärt der Musiker schelmisch. "Der Kontrast zwischen Samstag abend und Sonntag morgen ist hier ganz besonders ausgeprägt", sagt er. "Es geht in den Texten um hartes Leben, hartes Trinken - und am Sonntag geht Bluegrass in die Kirche und betet mit dem Eifer der Verdammten". sagt er. "Ich denke, alles, was ich selbst je geschrieben habe, ist von diesem Gegensatz durchtränkt. Und ich respektiere auch den religiösen Impuls, ich spüre die Furcht, die ich in den tief religiösen Menschen in meinem Umfeld beobachte. Ich spüre diese Furcht auch in mir selbst, aber ich versuche eher, sie mit Musik zu bannen als mit Religion. Und mit Geselligkeit - mit dem Zusammensein mit anderen Menschen. Ich glaube nicht, dass wir alle so unterschiedlich sind - meine Angst ist nur, dass wir irgendwann aufhören könnten, zusammenzukommen."

Festivals über Gräben hinweg

Die Bluegrass-Szene ist für Thile auch modellhaft für diese Art der Zusammenkunft – hat sie doch in den tief religiösen US-Südstaaten ebenso ihre Anhänger wie in Hipster-Zirkeln der Metropolen. Festivals, bei denen Fans neben Konzertbesuchen üblicherweise auch selbst musizieren, überbrücken oft politische Gräben: "Sie sind leider nicht besonders divers, was die Hautfarben angeht, aber in politischer Hinsicht sind sie es schon. Da kommen Leute zusammen, singen ums Lagerfeuer und spielen Lieder die sie kennen. Wenn man diese Erfahrung mit Leuten macht, die vielleicht sehr anders denken als du, hast du schon einen ersten Schritt in Richtung eines positiven Wandels gemacht."

Diese Festivalkultur ist laut Thile mitverantwortlich für die hohe Zahl an „Wunderkindern“, die die Szene hervorbringt. „Diese Events sind sehr informell, anders als der überwiegende Teil von Musikdarbietungen sonst", erklärt er. "In einem Konzertsaal oder auch beim sonntäglichen Kirchgang, wo auch viel gesungen wird, gibt es Druck, sich still zu verhalten. Bei einem Bluegrass-Festival können Kinder ganz sie selbst sein, die Erwachsenen sind meist abgelenkt, denn sie machen Musik“, erzählt er. „Ich kann mich erinnern, dass ich das bald auch selbst wollte."

Rat an Wunderkind-Eltern

Also keine überambitionierten Eltern, die die Karriere des Wunderkinds - Thile war mit neun Jahren in seiner ersten Band und veröffentlichte sein erstes Solo-Album als 13-Jähriger - beförderten? Der Musiker, der mit der Schauspielerin Claire Coffee verheiratet ist und mit ihr einen siebenjährigen Sohn hat, ist sich der Gratwanderung bewusst. "Für mich war Musik immer ein sicherer Hafen, und ich bin meinen Eltern dankbar dafür, dass sie nicht ihre eigenen Hoffnungen und Träume dort hineingebracht haben, sondern mir geholfen haben, daraus zu machen, was ich wollte", sagt Thile.

"Natürlich brauchen wir alle Ermutigung und Disziplin. Aber ich finde, es ist sehr wichtig, Kinder dazu zu ermutigen, ihrem eigenen Geschmack zu folgen, und nicht zu versuchen, sie in eine bestimmte Arena der Musik zu steuern, weil man vielleicht denkt, dass es ein seriöserer oder professionell aussichtsreicheres Feld ist. Lasst die Kinder den Sound suchen, den sie selbst in ihren Ohren haben oder der sie am meisten begeistert. Ein musikalisch talentiertes Kind wird seinen Weg zu einem zufriedenstellenden Leben in jeder Ecke der Musikwelt finden."

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