Der Krieg herrscht auch in Zeiten des Friedens

Der Biologielehrer gewann im Vorjahr Frankreichs renommiertesten Literaturpreis. Sein Roman liegt jetzt auf Deutsch vor.

Immer, wenn er zwischen zwei Unterrichtsblöcken Pause hatte, zwei, drei Stunden, übersiedelte der Biologielehrer vom Jesuitengymnasium ins Café Bellecour, das in der Mitte seiner Heimatstadt Lyon liegt, und schrieb. Fünf Jahre machte er das so.

Er schrieb über die Vollkommenheit einer unberührten Schneedecke. Er schrieb übers Zeichnen mit Tusche – wobei die wichtigsten Striche die sind, die man nicht macht.
„Ein weißes Blatt ist dann völlig ausreichend?“
„So eine Zeichnung wäre perfekt, aber zu fragil.“
Er schrieb: „Das Leben in Frankreich ist ein langer Sonntag, der böse endet.“

Am Ende war ein dicker Roman entstanden: über den Krieg und den Krieg in Friedenszeiten, der immer da ist, aber in andere Länder exportiert wird (oder auf die Straße geht).

Kunst des Krieges

Alexis Jenni steckte das Manuskript in ein Kuvert, adressierte es ans Lektorat des Pariser Gallimard Verlags – und gewann 2011 den wichtigsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt.
Eben ist „Die französische Kunst des Krieges“ bei Luchterhand auf Deutsch erschienen. Wozu viele Worte bemühen? Großartig. Einfach großartig.
Es beginnt mit dem Krieg im Irak. Aber nur im TV. Das geht da rein und dort raus. Harmlos geradezu. Dann aber lernt der Fernsehzuschauer (= der namenlose Erzähler) im Bistro Monsieur Victorien Salagnon kennen. Der hat früher viel gemalt und gezeichnet und verkauft nun die Bilder. Und er hat oft getötet. In der Résistance und später in Indochina und Algerien in Frankreichs schmutzigen Kolonialkriegen.

Der Krieg herrscht auch in Zeiten des Friedens

Und so einer kann auch Künstler sein? Salagnon hat gezeichnet, um die Dinge wieder zusammenzufügen, die von den Ereignissen zerfetzt worden sind ...
Nun lehrt er den Erzähler, den Pinsel zu führen; und dafür schreibt der Erzähler die Lebensgeschichte Salagnons auf.
So sieht das Gerüst des Romans aus. Alexis Jenni hatte Spaß daran. Er bohrte in die unbewältigte, ja verweigerte Vergangenheit Frankreichs ... aus Spaß?
Am Schreiben hatte er seinen Spaß. Der 49-Jährige wollte probieren, ob er exotische Schauplätze aufs Papier bringen kann. Die Wintersonne in Algier. Das heiße, lärmende Saigon.

Bewusst naiv ging er ans brisante Thema heran: Wenn man viel über die Kolonialkriege weiß, hat
Jenni in einem Interview gesagt, dann traut man sich nicht, darüber einen Roman zu schreiben. Dann dringe man nicht so leicht zu den Wurzeln Frankreichs vor, aus der eine Nation geworden sei, die – „das ist Tradition“ – die Demokratie auf der Straße durchspielen will:
„Wie oft enden Kundgebungen in Gewalt? Es ist die pervertierte Freude an Prügeleien statt an Diskussionen.“

KURIER-Wertung: ***** von *****

Das Buch: Alexis Jenni: "Die französische Kunst des Krieges". Übersetzt von Uli Wittmann. Luchterhand Literaturverlag. 761 Seiten. 27,70 Euro.

Der Krieg herrscht auch in Zeiten des Friedens
Der Krieg herrscht auch in Zeiten des Friedens

Der wichtigste französische Literaturpreis Prix Goncourt geht in diesem Jahr an Jerome Ferrari für seinen Roman "Le sermon sur la chute de Rome" (etwa: Der Eid auf den Niedergang Roms). Wie die Jury am Mittwoch in Paris bekannt gab, wurde Ferrari im zweiten Wahlgang gewählt. Der 1968 in Paris geborene Autor gehört zur neuen aufsteigenden Literatengeneration Frankreichs. Sein Werk handelt von einer Bar in Korsika, die zum Dreh- und Angelpunkt von Hoffnungen, Enttäuschungen und Konflikten wird, in denen sich die der gesamten Menschheitsgeschichte widerspiegeln. Ferrari stand als Favorit auf fast allen Shortlists der diesjährigen französischen Literaturpreise.

Ferrari habe durch seinen Sprache und seinen Stil überzeugt, begründete die Jury. "Le sermont sur la chute de Rome" ist das sechste Werk des Philosophielehrers. Von dem rund 200 Seiten langen Roman wurden bislang mehr als 90.000 Exemplare verkauft. Der erstmals 1903 vergebene Prix Goncourt ist zwar nur mit symbolischen zehn Euro dotiert, doch er katapultiert die Autoren wochenlang in die Bestsellerlisten und treibt die Verkaufszahlen in die Höhe.

Der Krieg herrscht auch in Zeiten des Friedens
Der Krieg herrscht auch in Zeiten des Friedens

Der Name des Autors ist den Insidern im deutschsprachigen Raum nicht ganz unbekannt. Von ihm wurde 2011 "Und meine Seele ließ ich zurück", im Original "Où j'ai laissé mon âme", veröffentlicht. Seine Dichte und Sprachmächtigkeit fiel auch hier auf. Der 44-Jährige unterrichtet seit diesem Jahr am französischen Gymnasium in Abu Dhabi. Zuvor arbeitete und lebte er in Algier und auf Korsika.

Prix Renaudot an Scholastique Mukasonga

Zeitgleich wurde am Mittwoch der Literaturpreis "Renaudot" vergeben. Die Auszeichnung ging an Scholastique Mukasonga für "Notre-Dame du Nil" (etwa: "Notre-Dame am Nil"). Das Werk handelt von einem 16-jährigen Mädchen, das in den Bergen zwischen der Kongo-Nil-Wasserscheide zurückgezogen lebt, um bis zur Hochzeit vor allen Versuchungen geschützt zu sein. Der Roman der aus Ruanda stammenden Schriftstellerin wurde im zehnten Wahldurchgang gewählt. Das Buch stand nicht auf der Favoritenliste.

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