Der israelische Musiker Asaf Avidan sieht "Heuchelei auf beiden Seiten"
KURIER: Herr Avidan, wie geht es Ihnen? Sie waren am 7. Oktober schon auf Tour als die Terrorattacke der Hamas auf Israel passierte, wollten die Tour aber deshalb nicht abbrechen.
Asaf Avidan: Zuerst hat mich angesichts dieser Brutalität und der vielen verlorenen Leben eine Welle der Hoffnungslosigkeit und der Hilflosigkeit übermannt. Mit dem israelischen Gegenschlag dann eine zweite. Ich konnte nicht schlafen, nicht essen und mir war schlecht. Aber ich hatte das Gefühl, dass Weitermachen für uns als Gesellschaft wichtig ist, dass es für mich als Künstler jetzt einen Job zu machen gibt. Und wie es mir jetzt geht? Ich würde gerne sagen, gut, aber das wäre nicht ehrlich. Es ist sehr kompliziert, weil ich nicht in die Extreme gehen will und sagen, das ist alles fürchterlich, weil das niemandem hilft. Aber den Kopf in den Sand zu stecken hilft auch niemandem.
Was ist Ihr Job als Künstler in dieser Zeit?
Der Job ist, meine Gefühle - sowohl die persönlichen als auch die in Bezug auf die Gemeinschaft - in Songs offenzulegen und ihnen eine andere Struktur zu geben. Denn in dieser riesigen Eskalation zwischen Israel und dem palästinensischen Volk macht sich Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit breit. Aber diese Polarisierung und die Unfähigkeit, komplexe Gefühle zu haben und sich komplexe Gedanken zu machen, passiert nicht exklusiv dort. Technologien wie Soziale Medien verknappen Ideen, Gedanken und Gefühle auf ein paar Worte oder Memes. Das passiert nicht nur über die Sozialen Medien und bei jungen Menschen, das passiert überall. Man sieht es in der Art, wie Leute über Politik reden: Da ist alles nur schwarz und weiß, gut oder böse, es gibt nur wir oder die. Und ich verstehe unser Bedürfnis, zu vereinfachen, weil die Welt zu bedrohlich und zu kompliziert geworden ist. Aber wenn wir in dieser Welt als verschiedene Gesellschaften zusammenleben wollen, müssen wir ihre vielen unterschiedlichen Nuancen verstehen, verstehen dass Menschen Täter und Opfer zur gleichen Zeit sein können. Die Leute verlangen von mir immer, auf einer Seite zu stehen, zu sagen, ich bin für Israel, oder ich bin für Palästina.
Das lehnen sie aber strikt ab . . .
Ja, denn ich bin Humanist. Ich bin anti-religiös, und ich bin anti-nationalistisch. Und man hört es ja sogar in meiner Musik – ich bin anti-Genre. Ich verstehe die Notwendigkeit für Grenzen nicht. Vielleicht verstehe ich sie noch auf der biologischen Ebene, dass man sich als Mensch durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe sicher fühlt. Aber man sieht ja anhand der Geschichte, wieviel Leid das bringt. Deshalb sage ich immer, ich will keine Seite wählen, ich stehe noch nicht einmal auf beiden Seiten, sondern ich stehe auf allen Seiten. Denn ich spüre die Fragilität und die Wunden in mir selbst. Und deshalb kann ich mir vorstellen, was diese Wunden und die Fragilität für Palästinenser bedeuten, aber genauso auch für eine Person aus China oder Afrika. Das ist Empathie und das ist, wo die Kunst ins Spiel kommt. Denn sie ist eine Sprache, die übersetzbar ist, und ein fabelhaftes Werkzeug für Selbstbeobachtung und Innenschau.
Und Innenschau führt zu Empathie?
Kunst ist eine sehr direkte Sprache. Wenn ich einen Song höre, hörst du nicht, was ich singe. Was du hörst, ist gefärbt von deiner Persönlichkeit, deinen Emotionen und deinem Unterbewusstsein. Deshalb können wir Musik dazu benützen, unsere Visionen von uns selbst als zerbrechliche Wesen herauszustreichen, dem Würde zu geben und das als Empathie anderen gegenüber weiterzutragen. Das Allererste für jede Lösung des Problems muss Dialog sein. Im Moment schreit jeder laut seinen Monolog von redlicher Opferrolle oder einem Gefühl, im Recht zu sein, in die Welt hinaus. Das ist das genaue Gegenteil von Dialog, es gibt kein Zuhören und keine Empathie. Und das Traurigste in Israel ist, dass die Kibbuze, die von der Hamas attackiert wurden, die waren, die am meisten links-liberal waren und ihr Bestes versucht haben, Frieden zu initiieren und dem palästinensischen Volk die Chance auf einen eigenen Staat zu geben. Dass diese Leute attackiert wurden, ist eine Waffe der Extremisten, mit der sie eine Welt kreieren, in der jeder Extremist werden kann. Wenn du solche Leute attackierst, attackierst du auch die Idee, dass die Welt komplex ist und viele Nuancen hat. Da wird jeder, der in der Mitte war, plötzlich entweder extrem links oder extrem rechts.
Haben Sie Hoffnung, dass der Dialog bald in Gang kommt?
Ich habe Israel vor acht Jahren verlassen, weil ich keine Hoffnung mehr hatte, war in Italien und lebe jetzt in Frankreich. Ich bin in Jerusalem aufgewachsen und habe die Stadt als Mikrokosmos dafür gesehen, was im Rest von Israel passieren wird: Alle wurden stärker religiös, fanatischer, und mehr auf „wir und die“ fixiert. Ich bin deshalb zuerst nach Tel Aviv. Aber auch dort habe ich gemerkt, dass diese Stadt nur eine kleine Blase in einem Land ist, in dem die Werte, die mir wichtig sind, weniger und weniger gefragt waren - in den Regierungen, die wir demokratisch gewählt haben. Wir weinen über Netanjahu, aber er wurde demokratisch gewählt. Und das fünf Mal hintereinander. Wir können nicht die Regierungen dafür verantwortlich machen, weil wir als Gesellschaft sie gewählt haben, weil unsere Hoffnung für etwas Besseres immer mehr reduziert wurde. Ich sage wir, aber eigentlich bin ich gar kein Teil mehr davon. Aber ich bin dort aufgewachsen und habe immer noch Familie und Freunde dort. Und ganz ehrlich, ich weiß nicht, wie schnell Dialog beginnen kann. Ich weiß gar nicht, ob er überhaupt stattfinden kann und in diesem Konflikt Brücken gebaut werden können. Sicher ist nur, es wird nicht passieren, wenn wir es nicht probieren. Wenn wir immer wieder Gewalt mit mehr Gewalt beantworten, was Israel 70 Jahre lang und auch viele andere Staaten immer wieder probiert haben, gibt das niemandem das Leben, das er sich wünscht.
Haben Sie bei den Hamas-Attacken jemanden verloren?
Gott sei Dank nicht in meiner Familie oder in meinem ersten Freundeskreis. Aber klar, Israel ist klein, und da kennt jeder jemanden, in dessen Freundeskreis jemand gestorben ist, oder man hat einen weitschichtigen Cousin verloren. Ich glaube, ich bin der Einzige, der in den letzten Wochen nicht auf vier oder fünf Begräbnissen war, weil ich einfach nicht in Israel war.
Nach den Attacken haben Sie den Song „Not In Vain“ in das Live-Programm aufgenommen, der wie auf die Situation hingeschrieben wirkt.
Ist er aber in keinster Weise. Er entstand lange davor, hat aber nie auf ein Album gepasst. Er ist wie ein kleines Gebet dafür, Verbindung über die Erfahrung von Leid zu kreieren, was für mich ein sehr vertrauter Gedanke ist. Dann kam der 7. Oktober und ich begann, „Not In Vain“ live zu singen, und auf einmal passte er. Das ist genau das, was ich meine, wenn ich sage, Musik ist eine übersetzbare Sprache: Ein Text, der aus etwas ganz anderem heraus entstand, fasst perfekt das zusammen, worum es mir in dieser Situation geht.
Der Name dieser Tour ist „Ichnology“, obwohl das Programm auf ihr jüngstes Album „Anagnorisis“ aufgebaut ist.
Ich lese sehr viel über Geschichte, Anthropologie und Forschung auf diesem Gebiet. „Ichnology“ ist ein Begriff aus der Archäologie, wo du Sachen über zweitrangige Hinweise herausfindest. Du findest also nicht die Knochen von Tieren, sondern deren Fußabdrücke oder Blaseneinschlüsse in Felsen, aufgrund derer du Annahmen aufstellen kannst, wer oder was sie hinterlassen hat. Und ich fand den Begriff eine schöne Metapher für das, was ich als Künstler mache: Ich forsche danach, was und wer ich bin. Aber das wird immer chaotischer, je tiefer ich hinein gehe. Obwohl ich mit mir selbst seit 43 Jahren lebe und mich eigentlich sehr gut kennen sollte, kenne ich mich nur von verschiedenen Hinweisen - von einem Gefühl hier, von etwas Unterbewusstem, das hochkommt, dort. Dann füge ich das Bild zusammen und kreiere eine Annahme von mir selbst, die aber nie korrekt ist.
Haben Sie auf dieser Tour seit dem 7. Oktober antisemitische Anfeindungen gespürt?
Nein, aber das liegt sicher daran, dass ich immer sehr offen darüber gesprochen habe, dass ich mich nicht mehr als Teil dieser Nation oder dieser Gemeinschaft sehe. Ich zerfalle in tausend Stücke, wenn ich daran denke, wie die Leute in Israel leiden und wie die Leute in Gaza leiden, ich habe immer noch einen sehr starken Bezug zu dem Land. Und ich verstehe auch nicht, wenn jemand Israel sagt, es soll nicht kollektiv die Leute in Gaza bestrafen, und dann eine Synagoge in Frankreich oder Belgien attackiert und die Leute dort verantwortlich macht. Was haben in Belgien lebende Juden mit dem Konflikt in Israel zu tun? Da gibt es sehr viel Heuchelei auf beiden Seiten, und ich versuche, mich da nicht zu involvieren. Nicht, weil ich nicht glaube, dass es nicht wichtig ist, sondern weil ich die oberflächlichen Auswirkungen des Problems umgehen und auf den Punkt kommen will. Und der ist: Wir sind alle allein, wir sind alle sterblich und wir haben alle Angst. Und wenn wir das verstehen und keine Angst mehr haben, können wir versuchen, eine bessere soziale Struktur zu schaffen, die Akzeptanz für andere Ansichten hat, Akzeptanz für jeden hat.
Schreiben Sie gerade an einem neuen Album?
Nein, ich mache das nicht Stück für Stück. Ich bin wie ein Schwamm, der alles aufsaugt und wenn ich das Gefühl kriege, dass das rauskommen muss, sage ich zu meinem Manager, ich gehe für zwei Monate in die Karibik oder sonst wo an einen Strand. Dann fahre ich da ganz allein hin, nehme nur eine Gitarre oder ein Keyboard mit, und schreibe ein Album.
Glauben Sie, dass diese Songs dann von den Ereignissen in Israel geprägt sein werden?
Ich glaube, ich werde nicht speziell über diese Kriegssituation schreiben, aber sicher über den Schmerz, das Zerbrechen der Hoffnung, die Tragödie des Menschseins. Songs, die einen Teenager in Taiwan genauso ansprechen, wie eine 70-jährige Frau in Uganda. Das interessiert mich. Und ich denke, das verringert nicht das, was ich politisch über Israel denke. Ich glaube sogar, dass das das beste Werkzeug ist, das wir politisch haben. Denn wenn du dich dafür entscheidest, aktiv an deiner Empathie zu arbeiten, ist das niemals nur persönlich, sondern ein politischer Akt, der Auswirkungen hat, die unsere Gesellschaft hoffentlich besser machen.
ZUR PERSON:
Asaf Avidan wurde am 23. März 1980 in Israel geboren. Er wuchs als Sohn israelischer Diplomaten unter anderem auf Jamaika auf, lebte aber ab seinem 11. Lebenjahr wieder in Jerusalem. Musikalisch beeinflusst wurde er von Nina Simone, Bob Dylan, Leonard Cohen, David Bowie, Radiohead, Tom Waits, Amy Winehouse und Nick Cave.
Mit 14 wünschte er sich ein Schlagzeug, bekam aber wegen der Lautstärke des Instruments eine Gitarre. Die begann er aber erst zu spielen, als er seinen ersten Liebeskummer verarbeiten musste.
Avidan fusioniert in seinen Songs Folk, Rock und Blues. Er spielt Klavier, Gitarre und Schlagzeug. Charakteristisch ist seine hohe Gesangsstimme, die oft mit Robert Plant verglichen wird. Sein größter Hit war „Reckoning Song“, der als „One Day“ im Remix des DJs Wankelmut um die Welt ging.
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