Der Hexenmeister der Skulptur
So wenig Material, so unglaublich viel Aura: Dieses Missverhältnis ist wohl in keinem Werk eines Künstlers so extrem ausgeprägt wie bei Alberto Giacometti.
Die strichdünnen Figuren, mit denen der 1966 verstorbene Schweizer ab den späten 1940er-Jahren berühmt wurde, sind darauf angelegt, ein Gefühl von Flüchtigkeit zu vermitteln; sie sollen nicht einfach Menschen und Dinge, sondern auch die bruchstückhafte, unsichere Wahrnehmung davon darstellen.
Und doch sind die Skulpturen heute Monumente geworden: Für den Aufbruch, den Umschwung, die essenzielle Selbstkritik, all das, was man unter dem Begriff „Moderne“ subsumiert. Und weil man heute mit historischem Auge auf diesen Aufbruch blickt, sind die Denkmäler viel wert: Mit einem Auktionspreis von 104,3 Millionen US-Dollar belegte Giacomettis „L’Homme qui marche I“ (Schreitender Mann I, 1960) im Jahr 2010 kurzzeitig den Stockerlplatz als „teuerstes Kunstwerk der Welt“.
Tausch mit Mehrwert
Die „Urversion“ des Schreitenden, eine Figur aus dem Jahr 1947, ist nun im Leopold Museum ausgestellt: Das Haus ist einen exklusiven Tauschhandel mit dem Kunsthaus Zürich eingegangen, wo die Bestände der Giacometti-Stiftung, der wichtigsten und größten Sammlung von Werken des Künstlers, beheimatet sind.
Während das Kunsthaus bis 25. Jänner 2015 Schiele-Highlights aus dem Leopold Museum präsentiert, hat man nun in Wien Gelegenheit, Giacometti in einer Dichte und Qualität kennenzulernen, die sich tatsächlich nur extrem selten bietet.
Je ein Raum der Ausstellung ist Giacomettis „kubistischer“ und „surrealistischer“ Phase gewidmet: In letzterer entstand das Stück „Gefährdete Hand“ (1932), eine abstruse Foltermaschine, die auch Marcel Duchamp oder Francis Picabia eingefallen sein könnte; die 1931 gegossene Bronze „Unangenehmes Ding, zum Wegwerfen“ (sic!) könnte auch der Werkstatt von Jean Arp oder Joan Miró entsprungen sein.
Skulptur versus Saal
Das reife Werk, wiewohl größer im Format, muss in den enorm hohen zentralen Sälen der Schau jedoch eine Probe bestehen. Die Ausstellungsmacher (Architektur: Weinhäupl ZT, Wien) überbrücken die Lücke zwischen Raum und Kunst auf originelle Art: Durch riesige, tief hängende Lampen, braun-metallische Wandfarbe und beleuchtete Sockel wirken die Figuren größer, der Raum kleiner. Leuchtstoffröhren in den Ecken bilden dazu ein räumliches Bezugssystem – Giacometti selbst schuf ein solches in Skulpturen, in denen eine Art Käfig die Figur umgibt.
Die Präsentationsform ist freilich auch ein Versuch, der Aura Giacomettis zu entsprechen. Wie ein Saal mit Fotos und einem Doku-Film von 1966 zeigt, konnte der Mann mit dem zerfurchten Gesicht schon seine Zeitgenossen wie ein Hexenmeister faszinieren; seitdem ist Giacometti unentwegt weitergewachsen. Im Leopold Museum wird an seinem Kult garantiert nicht gekratzt.
Der Künstler
Alberto Giacometti wurde 1901 in Stampa im italienischsprachen Teil der Schweiz geboren, sein Vater war Maler. Ab 1922 lebte er in Paris, wo er bis zu seinem Tod in dem selben, nur 18m² großen Atelier arbeitete. Giacometti starb 1966 in Chur/CH.
Die Ausstellung
„Alberto Giacometti – Pionier der Moderne“ ist bis 26. Jänner 2015 täglich außer Dienstag im Leopold Museum im Wiener MuseumsQuartier zu sehen. www.leopoldmuseum.org
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