Der Geruch von Sex irritiert beim Lesen der Briefe

Abschiedsbrief an China: Xiaolu Guo,41, hat die britische Staatsbürgerschaft angenommen
Wer ist China? Nicht der Staat! sagt die gebürtige Chinesin und nimmt Abschied.

Gewundert hat sie sich, dass – und da war sie längst als Filmregisseurin und Autorin bekannt – mehr als zehn amerikanische Verlage ihren Roman "Ich bin China" abgelehnt haben.

Mit der Begründung:

Er sei zu kompliziert, weil auf mehrere Arten, zum Teil in Briefen, erzählt wird.

In einem Interview hat Xiaolu Guo deshalb gefragt: Können die Menschen im Westen denn nicht lesen?

Brauchen sie die Bücher bloß, damit sie wirken wie die Schlaftabletten?

Operationstisch

"Ich bin China" macht nicht müde. Aber nervös.

Denn: Wenn man etwas über Künstler und Meinungsfreiheit nach dem Tiananmen-Massaker 1989 erwartet, will man nicht unbedingt über die Schottin Iona Kirkpatrick lesen, die im Pub Männer abschleppt und dann zu Hause über den Geruch von Sex irritiert ist.

Sex = Iona fühlt sich wie eine Hündin auf dem Operationstisch, der die Gebärmutter entfernt wird.

Aber diese Frau ist – wenngleich gewöhnungsbedürftig – wichtig.

Sie bekommt eines Tages einen Stoß Briefe in chinesischer Sprache, die sie übersetzen soll. Ein britischer Verlag überlegt nämlich, ob sich daraus ein Buch machen lässt.

Es sind die einige Jahre alten Briefe eines Liebespaares. Ein ziemliches Durcheinander. Er heißt Jian, ist Punkmusiker und musste aus China flüchten, weil er bei einem Konzert ein Manifest verteilt hatte.

Jasmintee

Sie heißt Mu, eine Dichterin wächst in ihr heran, aber noch ist sie angepasst, noch rebelliert sie nicht.

Überhaupt hält sich das Rebellische in China derzeit zurück.

Die meisten ihrer Generation haben sich, so Xiaolu Guo, vom Champagner-Sozialismus einlullen lassen.

Die Liebenden im Roman driften immer weiter auseinander, räumlich zumindest.

Der Geruch von Sex irritiert beim Lesen der Briefe
buch

An Erik Satie wird erinnert, unter Mao kam man ins Gefängnis, hörte man seine Kompositionen – und die Jasminrevolution von 2011 wird ins Gedächtnis geholt:

Leise hatten chinesische Intellektuelle gegen die Einparteienherrschaft, gegen Zensur und Korruption protestiert: Man spazierte mit Jasminzweigen durch die Straßen oder trank im Restaurant Jasmintee.

Nicht einmal das hielt die kommunistische Führung aus: Blumenhandlungen wurden geschlossen, Jasminblüten wurden verbrannt wie einst Bücher.

Gern hätte man bei dieser Gelegenheit mehr darüber gelesen. (Sehr gern auf Kosten von Iona Kirkpatricks Problemen.)

"Ich bin China" ist Xiaolu Guos Abschiedsbrief an ihr Geburtsland. Sie stammt aus einem südchinesischen Fischerdorf. Seit Kurzem hat sie die britische Staatsbürgerschaft.

Stellvertretend für sie ruft ihr Held Jian: "Ich bin China. Wir sind China. Das Volk. Nicht der Staat."

KURIER-Wertung:

Jeder ist, wie er eben ist – und kann nicht anders sein. (Man hört: Jetzt wird es sehr philosophisch!)

Der Geruch von Sex irritiert beim Lesen der Briefe
buch

Den W. braucht man nicht unbedingt so, wie er ist. Ein Ungustl ist er, ein Schöngeist und (trotzdem?) Zeitungskolumnist.

W. hat eine Altbauwohnung geerbt, da gehört unbedingt ein Nagel in die Wand geschlagen. W. muss deshalb in den Baumarkt, schrecklich ist das für ihn, und durch diese Entscheidung sind alle Konsequenzen beschlossene Sache (Außer jener, den gekauften Nagel zu verwenden.)

Der etwas skurrile Debütroman des Biologen und Philosophen Franz M. Wuketits ist – gerade auch wegen seiner Umständlichkeit – reinstes Vergnügen. Das Hirn juchzt bei "Mit Pessoa in den Baumarkt" (PROverbis Verlag, 204 Seiten, 19,90 Euro).

KURIER-Wertung:

Der Geruch von Sex irritiert beim Lesen der Briefe

Diejenigen, die sich auszukennen glauben und in ihrer festgefahrenen Meinung immer "Na sicher!" sagen, könnten ins Wackeln kommen und künftig auf Schuldzuweisungen verzichten ...

Der Geruch von Sex irritiert beim Lesen der Briefe
buch

wenn sie "Who the Fuck Is Kafka" (übersetzt von Mirijam Pressler, dtv, 256 Seiten, 15,40 Euro) zulassen und den autobiografischen Bericht wirken lassen: Die israelische Schriftstellerin Lizzie Doron und der arabisch-palästinensische Fotograf Nadim aus Ost-Jerusalem erleben eine unmögliche Freundschaft. Zwei Welten werden erkundet, mitunter muss eine Verkleidung her, damit die Freunde zueinander können. Obwohl Burka mit Gucci-Schuhen verräterisch ist. Dass der Frieden im Sterben liegt, hat absurde Momente.

KURIER-Wertung:

Wäre die Ausgabe nicht zweisprachig – die 30 Jahre alte 40-Seiten-Erzählung "Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache"(Deutsch-Englisch, übersetzt von Ulrich Blumenbach, Kiepenheuer & Witsch, 112 Seiten, 6,20 Euro) hätte kein Büchlein ergeben.

Der Geruch von Sex irritiert beim Lesen der Briefe
buch

Was schade gewesen wäre: Der Amerikaner Foster Wallace beschreibt, wie sich Depressionen anfühlen bzw. wie man mit Medikamenten von der Erde weggeschossen wird und der "Üblen Sache" (= die Übelkeit, die den ganzen Körper überfällt) entkommt. Einerseits angenehm, andererseits eine schreckliche Erkenntnis.

Dass vom Übersetzer dauernd das Berliner Wort "Steppke" für einen pfiffigen Kerl verwendet wird, tut nur etwas weh.

KURIER-Wertung:

Kommentare