Die Kundgebung richtete sich "gegen Glorifizierung von Sodomie, Blasphemie, Vergewaltigung, Mord und Pädophilie". Denn all das glaubten die Organisatoren in einem Jahrzehnte alten Text von Hermann Nitsch erkennen zu können. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Tatsachenbeschreibung oder Handlungsaufforderung, sondern um eine Art Partitur für ein - zugegeben heftiges, abgründiges - König-Ödipus-Spiel mit dem Titel "Die Eroberung Jerusalems". Es ist nichts anderes als zum Beispiel Peter Greenaways expliziten Film "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber" (aus 1989): eine Phantasie, die man nicht für bare Münze nehmen darf.
Nitsch war zu Lebzeiten mehrfach wegen "Die Eroberung Jerusalems" angegriffen worden. Und seine Rechtfertigung war: "Dieses Drama ist der Ansatz dazu, einen Katalog des Leidens der Perversion zu entwerfen. Kunst muss alles aufgreifen, was es gibt, alles darstellen oder umsetzen, was vorhanden bzw. was Ereignis ist. Kunst hat nicht nur den Auftrag, das landläufig Schöne zu zeigen, sondern sie hat die Aufgabe, das zutiefst Schöne zu zeigen, welches auch Leid, Schmerz, das Tragische und den Tod enthält."
Nichts anderes hat Nitsch mit seinen Aktionen unter Beweis zu stellen versucht, darunter mit dem "3-Tage-Spiel" im Jahr 1984 auf Schloss Prinzendorf oder mit dem "6-Tage-Spiel" im Jahr 1998. Die Aufführung der zweiten Fassung dieses Gesamtkunstwerks konnte er nicht mehr erleben: Die Tage 1 und 2 wurden erst Ende Juli 2022 von seiner Witwe, Rita Nitsch, und einer Hundertschaft an Beteiligten realisiert.
Die erste Jahresausstellung im Nitsch Museum nach dem Tod des Meisters sollte sich daher auch mit dem Herzstück des Orgien Mysterien Theaters, eben dem "6-Tage-Spiel", befassen: Direktor Michael Karrer zeigt Installationen, Relikte, Videos, Partituren und so weiter, wie gewohnt sehr würde- und weihevoll inszeniert. Hoch interessant ist die Gegenüberstellung der gleichformatigen Schüttbilder aus 1998 und 2022 an den Längsseiten: Man kann beim besten Willen keine Unterschiede erkennen. Es ist also egal, ob Nitsch beim Entstehungsprozess physisch anwesend war oder nur spirituell.
Die Unterschiede werden aber in den riesigen Collagen mit Fotos zu jedem einzelnen Tag offensichtlich: 1998 waren unter anderem die Dächer des Schlosses noch nicht saniert. Und 2022 manche Aktionen, von Nitsch in der Partitur genau beschrieben, ungleich bunter als früher.
Eröffnet werden sollte die Schau am Samstag um 18 Uhr. Da die Demonstranten das vorsorglich eingehüllte Zugangstor belagerten, nahmen die Besucher eben ungehindert den Lieferanteneingang. Der einsetzende Regen tat das Seinige dazu: Um 17.45 Uhr verharrten nur mehr ein paar Hartgesottene.
Der dritte Tag der zweiten Fassung des 6-Tage-Spiels wird heuer am Pfingstsonntag uraufgeführt.
Kommentare