Das Gedächtnis hat noch einen Namen dazu bekommen

Autorin Angela Rohr
Angela Rohr (1890 – 1985) müsste mit dem Roman "Lager" berühmt werden.

Als Hans Marte, damals Kulturrat der österreichischen Botschaft in Moskau, 1977 erstmals mit Angela Rohr Kontakt hatte, war sie 87 Jahre alt.

Sie war immer arm gewesen, und jetzt lebte sie in einem einzigen Zimmer einer Gemeinschaftswohnung, 23 Quadratmeter groß, alles voller Bücher, Bilder von Tolstoi und Dostojewksi an der Wand, Bett, Schreibtisch.

Hin und wieder ordinierte Angela Rohr. Mit Patienten besserte sie ihre kleine Pension auf.

Wrack

Einmal wurde sie an ein Krankenbett gerufen. Der Patient lag im Kremlkrankenhaus in Kunzewo, ein zusammengefallenes Wrack. Er wollte unbedingt von ihr behandelt werden. Es war "ihr" ehemaliger Lagerkommandant ...

Er war nicht DAS Böse gewesen. Einmal hatte er sogar ein Pferd kaufen lassen, um die hungernden Gefangenen zu ernähren.

An dieser Stelle könnte man anmerken: ... und Angela Rohr war gar keine Ärztin.

Aber das würde in diesem Moment zu verwirren.

Stärker als Sibirien

Was sie schrieb, erschien posthum. Was sie schrieb, sind Texte über den Gulag. "Lager", 1964 geschrieben, liegt erst jetzt in den Buchhandlungen.

Germanisten mögen nachdenken, ob der so nüchterne Roman Literatur ist.

Alle anderen werden es spüren; und erleben werden sie, wie man mit nur 35 Kilo und geschwollenen Beinen stärker ist als der sibirische Winter mit 40 Minusgraden.

Eine beeindruckende Frau. Angela Rohr, die auch Hubermann hieß und Golnipa, je nach Ehemann, je nach Pseudonym, ist viel mehr als nur eine Fußnote der (Literatur-)Geschichte.

Geboren in der österreichisch-ungarischen Monarchie – in Znaim, war sie eine von 20 Millionen Menschen, die in stalinistischen Arbeitslagern gefangen gehalten wurden. (Zwei Millionen starben.)

Durch ihre zweite Heirat mit einem Polen war sie russische Staatsbürgerin geworden, mit ihrem dritten Mann war sie nach Moskau gezogen, um die russische Seele kennenzulernen. Hm.

Als die Wehrmacht Russland überfiel, war sie als Korrespondentin der Frankfurter Zeitung "Deutsche" und deshalb "Schädling".

15 Jahre

Das Ehepaar wurde verhaftet, der jüngere (schwächere) Ehemann Wilhelm Rohr verschwand schon während seiner Zeit in U-Haft spurlos.

1942 wurde Angela Rohr als "sozialgefährliches Element" verurteilt.

In Nishni Tagil im mittleren Ural blieb sie – Strafe plus Verbannung – 15 Jahre, bis zu ihrer Rehabilitierung und Rückkehr nach Moskau 1957.

Sie fällte Bäume in der Taiga und versuchte, die Krankschreibung von Häftlingen bei der Lagerleitung durchzusetzen. Sie entlauste die Insassen der Baracken und erforschte eine Heilmethode bei Vergiftung mit Wasserschierling. Denn trotz Warnung wurden oft diese Wurzeln verschlungen, um etwas Nahrhaftes zwischen den Zähne zu haben.

Ebenso wurden rohe Erdäpfel während der Feldarbeit gegessen.

Alles machte krank.

Brecht und Rilke

Angela Rohr hatte angegeben, Ärztin zu sein – in der Hoffnung, dadurch den Gulag zu überleben; und um ihrer Haft Sinn zu geben.

Und es war ja wirklich ihr Berufswunsch. Tatsächlich studierte sie in Zürich Medizin (ohne sich an der Uni einzuschreiben), besuchte in Berlin Vorlesungen über Psychoanalyse sowie über Arzneimittel und Hygiene.

Namedropping wäre ihrer nicht würdig, trotzdem: Lenin kannte sie, Sigmund Freud kannte sie, Brecht kannte sie gut, und Rilke, der war ein echter Freund.

Ihre Lebensgeschichte ist kaum zu bändigen.

Sie liebe die Menschen nicht, soll sie gesagt haben.

Das Gedächtnis hat noch einen Namen dazu bekommen
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