„Ich spüre bei uns in Österreich eine starke Ambivalenz. Es gibt in Bezug auf das Thema Inklusion sowohl Fortschritt als auch Rückschritt.“
Seit Tom Neuwirth in der Rolle der Dragqueen Conchita 2014 für Österreich den „Eurovision Song Contest“ gewann, wurde der 30-Jährige weltweit zur Symbolfigur für Toleranz, setze sich eloquent wie kein anderer allgemein gegen jede Art von Diskriminierung und als Homosexueller speziell für die Anliegen LGBT-Gemeinschaft ein. Mit dem neuen Album „Truth Over Magnitude“ hat Neuwirth das Alter-Ego Conchita zwar abgelegt und nennt sich für den Elektro-Pop-Sound jetzt „Wurst“.
Die Leidenschaft für das Thema Inklusion ist aber im Interview mit dem KURIER nach wie vor zu spüren.
Er habe in Österreich schon Veränderungen in Bezug auf Repressalien gegenüber der LGBT-Gemeinschaft bemerkt, sagt er, seit er beim ESC gewann. Denn seither gab es in Österreich und ganz Europa eine Bewegung nach Rechts. Aber: „Gleichzeitig haben wir in Wien Ampeln, die gleichgeschlechtliche Pärchen zeigen. Wir haben die EuroPride, bei der ganz Wien mitgefeiert hat, die Ehe wurde geöffnet. Er ist viel passiert, was totalen Fortschritt impliziert. Es wurde auch viel gesagt, was Rückschritt impliziert. Hoffentlich wird es nie umgesetzt. In Wien ist es jedenfalls noch recht entspannt.“
Neuwirth weiß aber auch, dass er diesbezüglich privilegiert ist: „Als weißer Mann in Mitteleuropa ist es leicht, weil wir hier in einem Umfeld aufwachsen, das weitestgehend inkludierend ist. Ich war ja auch in Russland, in St. Petersburg, habe dort als Conchita gesungen, als bei einem Filmfestival zum ersten Mal ein queerer Film vorgestellt wurde. Da mussten mir die Veranstalter Begleitschutz stellen. Das würden sie nicht machen, wenn es keine Gefahr geben würde. Und eine Zeitung, die in Russland über michschreiben wollte, musste erfinden, dass ichFamilie und Kinder habe, um das tun zu können. Wie absurd ist denn das?"
Schnell fügt Neuwirth aber auch hinzu, dass die Frage nach Veränderungen für ihn schwer zu beantworten ist: „Ich lebe in einer Blase, denn ich bin nur von Leuten umgeben, die meine Idealvorstellungen teilen. Ich höre von anderen Geschichten, wo Leute sich in der Öffentlichkeit kein Blatt vor den Mund nehmen und andere etwa in der Straßenbahn denunzieren. Ich glaube das natürlich, ich gehe ja nicht ignorant durchs Leben. Aber emotional ist mir das so fremd, dass es mir wie ein Märchen vorkommt. Ich selbst habe auch nur schöne Begegnungen – weil ich sehr gern mit den Leuten rede, wenn ich zum Beispiel im Supermarkt an der Kassa stehe.“
Dass Österreichs Gesellschaft trotzdem noch lange nicht dort angekommen ist, wo sie hin sollte, zeigen Neuwirth seine eigenen Gedanken: „Wenn ich in Wien zwei Jungs Hand in Hand spazieren gehen sehe, kommentiere ich das in meinem Kopf. Ich komme halt aus einer Generation, der das so lange eingebläut wurde, dass es mir nur auffallen kann. Wir sind vergiftet von Jahrhunderten von irrsinnigen Konzepten. Das abzutrainieren braucht Zeit. Und die muss man der Sache auch geben.“
Schon deshalb hofft er, dass auch der Life Ball bald irgendwann ein Comeback feiern wird. "Ich glaube, dass es nur ein Zufall, war, dass das Ende des Life Balls in die Zeit der ÖVP-FPÖ-Koalition fiel. Aber das ist natürlich ein großer Verlust - nicht nur aus sozialpolitischer Sicht, sondern auch weil es im Tourismus richtig toll zugegangen ist, wenn der Ball war. Und ich weiß nicht, ob dieser wirtschaftliche Aspekt die Verantwortlichen nicht ohnehin mehr interessiert, als sie angeben. Ich kenne auch den Wahnsinn des Herrn Gary Kessler. Und das ist ein Kompliment, denn um so etwas auf die beine zu stellen, muss man getrieben sein."
Häufig stand Neuwirth als Conchita unter Beschuss, hat das in dem Song „Hit Me“ verarbeitet, der sagt, „es ist nett, dass ihr eine Meinung zu mir habt, aber ich gestalte mein Leben selbst“.
Das will Neuwirth jetzt mit der Trennung zwischen Conchita und ihren dramatischen Balladen einerseits und dem tanzbaren Sound von Wurst andererseits weiter vorantreiben. Er war sogar in Therapie, um den ESC-Sieg und seine Folgen zu verarbeiten: „Freunde sagten mir, dass sie gleich danach nicht mehr wussten, wie sie mir begegnen sollen. Und ich habe mir bei durchaus gut gemeinten Veränderungen in ihrem Verhalten gedacht: ,Dafür, dass du mich glorifizierst, kennen wir uns zu lange!’ Das alles aufzuarbeiten, zu sehen, wo bin ich nicht die großartige Conchita, die ich glaube zu sein, wo habe ich Menschen verletzt und es gar nicht gemerkt, war die größte Herausforderung in den letzten Jahren. Ich hab diese Figur weiter gespielt, weil ich dachte das wollen die Leute, wusste aber überhaupt nicht mehr, was mich glücklich macht. Weil ich die Chancen, die mir der Sieg gab, nicht vergeben wollte, habe vier Jahre lang nur geredet und mich kreativ dabei aber vollkommen hintangestellt.“
Der Weg zur neuen musikalischen Richtung war auch nicht leicht: „Ich habe nach dem Sieg eine frischere Fortführung von ,Rise Like A Phoenix’ gesucht, bin dabei sogar auf Country gekommen. Zu Hause habe ich aber nur Moloko und Massive Attack gehört. Irgendwann dachte ich, warum machst du eigentlich nicht das, was du privat so gern hörst? Dann wurde ich gefragt, ob ich mit Lylit arbeiten will, die ich liebe. Als wir dann zu ersten Mal zum Songschreiben zusammengesessen sind,war es so natürlich, dass ich dachte: ,Auf das hättest du auch früher kommen können!’“
Kommentare