Colum McCann: Am besten nach der letzten Seite

Ein Kind verschwindet. Eine Mutter wird zur Sh’khol. (Erklärung folgt unverzüglich.)

"Verschwunden" ist eine Erzählung, von der man sich vielleicht merken wird:

Es gibt kein deutsches Wort für Eltern, die ihr Kind verloren haben.

Es gibt auch keines im Englischen, Französischen, Russischen ...

Aber ein hebräisches Wort gibt es: Sh’khol; und im Arabischen wird getrennt:

Die Mutter ist thakla, der Vater ist ein mathkool ...

Der berühmte irische, in den USA lebende Schriftsteller Colum McCann hat eine kurze Geschichte geschrieben, die am besten wirkt, wenn sie ... verschwunden ist.

Wenn sie zu Ende ist, aus und vorbei und still.

Wenn nur noch ein Seufzer übrig bleibt: Warum kann man nicht immer ein Kind bleiben? Aber eine Mutter schon. (Den Vater klammern wir aus, er hat sich im konkreten Fall vertschüsst).

Im Atlantik

An der Oberfläche spielt sich in "Verschwunden" nur das Folgende ab:

Rebecca und ihr Mann Alan haben vor sieben Jahren einen Buben in Wladiwostok adoptiert und in ihr Häuschen an der irischen Westküste mitgenommen.

Tomas ist geistig etwas gehandicapt.

Sechs war er damals, jetzt ist er 13, und seine Adoptiveltern sind geschieden. Die nun 48-jährige Rebecca lebt mit Tomas allein. Sie sind ein sehr liebes, zärtliches Paar. Im Dorf gibt es eine Sonderschule. Kann sein, dass sie demnächst zusperrt. Keine Ahnung, wie es dann weitergehen wird.

Rebecca ist die "sh’khol" – gleich wird sie es sein.

Sie hat Tomas zu Weihnachten einen Neoprenanzug gekauft. Er liebt es, im Atlantik zu schwimmen. Seit einem halben Jahr kann er schwimmen. Er darf nur in der Bucht, nicht in der Nähe der Felsen.

Tomas freut sich sehr über das Schwimmgewand. Und ist am nächsten Morgen weg, mit dem Neoprenanzug. Mutter hat etwas länger geschlafen. Jetzt sucht sie im Wasser. Fischer suchen. Die Polizei sucht. Nichts.

Wie spult man einen Tag zurück?

Können denn, verdammt, können denn überhaupt keine Sehnsüchte, die Mutter für Tomas hegte, erfüllt werden?

Stopp!

Bitte hier zu lesen aufhören, wenn man nichts Zusätzliches mehr in Erfahrung bringen will.

(Geht’s?)

Also, Tomas taucht nach einigen Tagen auf. Unverletzt. Seine trockene Kleidung riecht nach Torf. Seine Abwesenheit bleibt geheimnisvoll.

Alles ist wieder gut.

Aber – (siehe: Warum kann man nicht immer ein Kind bleiben?) – alles ist anders.

Auch wenn man das schmale Buch weglegt, hat sich etwas verändert. Mehr kann Literatur nicht leisten.

Colum McCann:
„Verschwunden“
Übersetzt von Dirk van Gunsteren.
Dörlemann Verlag.
112 Seiten. 15,40 Euro.
Erscheint am
27. Jänner.

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