Clemens J. Setz: Sein Leben wird immer „zwirniger“

Clemens J. Setz: Sein Leben wird immer „zwirniger“
Der Grazer Schriftsteller Clemens J. Setz bekommt für seine Sprachkunst die bedeutendste Literatur-Auszeichnung Deutschlands

Bevor in seinen Büchern Würmer mit Phantomschmerzen auftraten, bevor Räume Migräne bekamen, Bienen von feuchten Rechtecken träumten und Schneidezähne wie Skier in Pflugstellung aussahen – bevor er seine Liebe zu langen Sätzen und erfundenen Wörtern entwickelte, dichtete Clemens J. Setz knapp:

Nest bauen

Eier legen

brüten

Junge schlüpfen aus

füttern

flügge

neue Amseln

Der Grazer ging damals in die zweite Volksschulklasse. So fing es an, was Dienstag zu seiner nächsten Literatur-Auszeichnung, der 18., führte. Zur größten im deutschsprachigen Raum:

Clemens J. Setz, 38 ist er mittlerweile, bekommt den mit 50.000 Euro dotierten Georg-Büchner-Preis 2021 der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Am 6. November wird er übergeben.

Zugunglück

Erste Reaktion: „Der Name Georg Büchner und auch die Preisträgerinnen und Preisträger der letzten Jahre ... sich in das eingereiht zu sehen, ist schon eine Ehre, die kann ich noch nicht ganz fassen.“ (Den Preis bekamen z.B. Max Frisch, Heinrich Böll, Günter Grass sowie die Österreicher Josef Winkler und Walter Kappacher.)

Anlässlich des Debütromans „Söhne und Planeten“ (2007) hatte Clemens J. Setz im KURIER seine Arbeitsweise mit einem Eisenbahnunglück verglichen:

Alle Waggons liegen durcheinander, er müsse sie auf Schiene bringen, damit der Zug fahrbereit sei. Und die Leser? Man könnte sagen: Sie sammeln Faden um Faden, nicht alle hängen zusammen, aber am Ende hat man einen Wollknäuel zum Spielen fürs Gehirn.

Die Begründung der Jury ist weniger bildstark:

Die verstörende Drastik des Sprachkünstlers steche ins Herz unserer Gegenwart, weil sie einem zutiefst humanistischen Impuls folge. Diese Menschenfreundlichkeit verbinde Setz mit einem enzyklopädischen Wissen und einem Reichtum der poetischen und sprachschöpferischen Imagination.

Im seinem Roman „Indigo“ werden in einem Internat ansteckende Kinder unterrichtet. Das heißt: Kommt man ihnen in die Nähe, bricht man zusammen. Das klingt – relativ – logisch.

Allerdings trägt der Sonnenschein Bartstoppel, und der Himmel ist so blau, „dass man eine Stecknadel darin hätte fallen hören.“

In den Erzählungen „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ baute Setz ein Labyrinth aus Zärtlichkeit, Gewalt, Liebe und Gemeinheit ; er bekam dafür den Leipziger Buchpreis.

Und dass aus einer Visitenkarte ein schwarzes Geschwür wuchs? Man muss nicht alles verstehen. Auch Setz versteht nicht alles.

Mit seinem vierten, besten und bisher letzten Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ schaffte er die Balance zwischen dem Rätsel Mensch und einer sehr klar geschriebenen Geschichte, wie es Haruki Murakami manchmal zustande gebracht hat.

„Normale“ Menschen interessierten ihn freilich nach wie vor nicht.

„Von normalen Menschen habe ich natürlich schon gehört. Es scheint sie zu geben. Aber ich kenne mich mit ihnen nicht aus.“

Wer ist Clemens J. Setz?

Mathematik (und Germanistik) studierte er. Das förderte sein Gefühl für Symmetrie und Ordnung. Still sitzen kann er nicht. Lesen, vorlesen kann er stundenlang, seit er im Alter von 14 Jahren die Gedichte Ernst Jandls für sich entdeckte.

Im Leben kommt ihm seither einiges „zwirn“ vor. Ein Lieblingswort.

Der Suhrkamp-Autor interessiert sich für erfundene Sprachen. „Die Bienen und das Unsichtbare“ ist der Erlebnisbericht, wie er sich mit Klingonisch aus dem Star-Trek-Universum beschäftigte – und mit Volapük:

Sonntag ist „sudel“, Montag „mudel“ ... Auch die Weltsprache Esperanto hat Humor: Der Daumen heißt „la dikfingro“.

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