"Claustria": Hoffentlich ein bisschen erfunden

Der Franzose Régis Jauffret schuf mit "Claustria" ein starkes, lästiges und wichtiges Stück Literatur.

Zunächst will man "Claustria" nicht lesen. Alles sträubt sich dagegen. So ähnlich muss es dem offiziellen Österreich ergangen sein. Schnell wegsperren. Zubetonieren. Wer weiß, was man sonst noch erfahren hätte.
Wundern und aufregen braucht man sich jetzt aber nicht über den angesehenen, auf reales Grauen spezialisierten Franzosen Régis Jauffret, wenn er schreibt, Österreich sei nicht an der Wahrheit interessiert, und taub sei das Land offensichtlich auch.
"Claustria" ist ein zurückhaltender, sachlicher Roman, ein sehr guter, vor allem auf den ersten 200 Seiten, bevor man – auch als Leser – eingesperrt ist.

Denn anfangs kommt alles zusammen, Zeiten und Rhythmen. Man springt aus der Zukunft, wenn nur noch ein Sohn lebt, zurück zur fiktiven Sprengung des Hauses, zum Prozess, in Fritzls Vergangenheit ... es fließt ineinander.
"Claustria" ist ein Roman in der Tradition von Truman Capotes "Kaltblütig" – also fast ein Bericht. Der Autor hat monatelang in Amstetten recherchiert. Dass er Wert darauf legt, Fiktives geschrieben zu haben, ist auch Selbstschutz. Im Roman ist Fritzls Ehefrau Mitwisserin. Und die Nachbarn müssen etwas geahnt haben, der Keller war nicht schallisoliert.

Man hofft, dass wenigstens ein bisschen Erfindung dabei ist. Weil z. B. ein derartiger Kotzbrocken wie der ausführlich beschriebene Strafverteidiger Fritzls ("Jeder macht in der Kindererziehung Fehler") darf nicht echt sein. Sonst hätte es doch wohl ein Disziplinarverfahren gegeben. Nein? "Claustria" will Sorge tragen, dass nichts vergessen wird. So zerrt Jauffret z. B. einen KURIER-Artikel aus 1986 hervor. Er lag angeblich im Keller, in einer Mappe mit Zeitungsausschnitten über ungeklärte Frauenmorde. Die Namen sind geändert, alle bis auf Josef Fritzls. Gemeint ist der Mord an Martina Posch. Ihre Leiche lag im Mondsee, wo Fritzl damals eine Pension führte (siehe "Literarische Spekulationen um Fritzl") .

Starke, lästige, wichtige Literatur. Sehr gern legt man sie weg. Aber erst nach 528 Seiten. Der Salzburger Verlag "Lessingstraße 6", ein Ableger von Ecowin (Portisch, Hengstschläger, Salcher) holt Régis Jauffret am 24. September nach Wien ins Rabenhof-Theater.

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