CASTINGSHOWS & SUPERSTARS
Camila Cabello hat es geschafft. Sie ist noch nicht einmal 21 und doch der zurzeit gefeiertste Popstar der USA. Dabei standen die Vorzeichen nicht gut für sie. Geboren in Kuba, aufgewachsen zwischen Havanna und Mexiko City, der Heimat ihres Vaters. Nicht die beste Ausgangslage, um es in den USA zu etwas zu bringen. Eigentlich nicht einmal dafür, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten überhaupt zu erreichen.
Sie war sieben als ihre Mutter mit ihr die Grenze nach Amerika passierte. In einem Essay, das vor Kurzem für Aufsehen sorgte, beschreibt sie die Beweggründe für eine derartige Flucht. Beweggründe, die auf ihre Mutter ebenso zutreffen, wie auf Millionen andere Menschen in ähnlichen Situationen: „Wir sind nicht furchtlos. Aber unsere Träume sind größer als unsere Angst. Also springen wir. Wir laufen. Wir schwimmen. Wir verschieben Berge, wenn es sein muss. ... Und wenn jemand darüber spricht, eine Mauer an unserer Grenze bauen zu wollen, sollte er nicht vergessen, dass hinter dieser Mauer Hunger herrscht und Überlebenskampf. Und Entschlossenheit.“
Vielleicht ist es neben einem ordentlichen Maß an Talent genau diese Entschlossenheit, die Camila Cabello zu etwas Besonderem macht. Denn dass sie wie andere Teenager davon träumte, eine berühmte Sängerin zu werden, ist nicht ungewöhnlich. Dass sie wie Tausende andere bei einer Casting Show mitmachte auch nicht. Dass sie es trotz ihrer Teilnahme an „The X-Factor“ tatsächlich schaffte, ist es allerdings schon. Denn die goldenen Zeiten der Talentshows sind längst vorbei. Die waren tief in den 90ern, als wirklich eine erstaunliche Anzahl noch heute anerkannter Künstler aus der Sendung „Star Search“ hervorgingen. Beyoncé, Justin Timberlake, Britney Spears, Christina Aguilera, Usher, Alanis Morissette ...
Justin Timberlake einst und jetzt...
Sie alle machten damals bei einer Show mit, die „Star Search“ hieß. Erstaunlicherweise konnte kein Sieger einer „Erwachsenen-Kategorie“ langfristigen Erfolg verbuchen, die Superstars von heute nahmen ausnahmslos am Nachwuchswettbewerb teil, wurden zwischendurch im Mickey Mouse Club geparkt (Aguilera, Usher, Timberlake, Spears) oder gingen nach frühem Ausscheiden komplett andere Wege (Alanis Morissette, Beyonce mit Destiny's Child). Eine Rolle, die eventuell die erst 14-jährige Grace VanderWaal übernehmen könnte, die vor eineinhalb Jahren „America’s Got Talent“ gewonnen hat. Wir werden sehen ...
Generell konnte diese zweite Generation der Castingshows in den 2000ern nicht an die früheren Erfolge anschließen. Kelly Clarkson behauptete sich nach ihrem Sieg bei „American Idol“ (2002) und freut sich über eine bis heute respektable Karriere. Jennifer Hudson wurde zwar bei derselben Show nur siebte (2004), hat seitdem aber schon einen Grammy und einen Oscar gewonnen. Die Kanadierin Carly Rae Jepsen ist nachträglich nicht unglücklich, dass sie 2007 bei „Canadian Idol“ nur dritte wurde: „Ich hatte so lange wie möglich ein großes Publikum – und musste am Ende keinen Vertrag unterschreiben.“ Heute ist die Sängerin, die ursprünglich vom Folk und Jazz kommt, einer der letzten echten Popstars, die aus einer Castingshow hervorgegangen sind.
Und sonst? Gefeierte Helden und „Stars der Herzen“ wie Paul Potts und Susan Boyle („Britain’s Got Talent“, 2007 und 2009) blieben, nachdem ihre Plattenfirmen das selbst entfachte Strohfeuer eine Saison lang genutzt hatten, schnell auf der Strecke. Aber auch bei den bewusst als „alternativ“ präsentierten Konzepten wie Stefan Raabs „Stefan sucht den Superstar ...“ lief es kaum besser. Oder kann sich heute noch jemand an Stefanie Heinzmann (2008) erinnern?
Umso höher einzuschätzen ist der lokale aber doch konstante Erfolg, den Christina Stürmer sich nach ihrer Teilnahme bei „Starmania“ (2003) erarbeitet hat.
Warum ist es so schwierig, sich als Künstler über Talentshows zu positionieren? Weil es bei diesen Sendungen nicht mehr um Talent oder gar um Kunst geht. Es geht ums Drama. Mittelmaß, inszenierte Hysterie und Schmierentheater bestimmen das Geschehen, es sind die Schicksale der Kandidaten, die uns zum Zuschauen bringen. Nicht ihre Musik. Und über die Show hinaus gibt es nichts, weshalb wir uns für einen von ihnen interessieren könnten.
Camila Cabello wurde mit der Girl-Band Fifth Harmony bei „The X-Factor“ dritte. Das verhalf der damals 15-Jährigen zu einer gewissen Popularität. Die sie nutzte, um mit Künstlern wie Shawn Mendes und Machine Gun Kelly, Diplo, Pitbull und Rapper Young Thug zusammenzuarbeiten, bevor der kurzlebige Hype wieder vorbei ist. Heute ist sie an der Spitze angelangt. Und wer die lässigeSelbstironiesieht, mit der sie sich in ihren Videos inszeniert, die leichte Hand spürt, mit der siePop-Hymnenschreibt - und die Natürlichkeit, mit der sie dann ein improvisiertes Konzert mit Talkshow-Star Jimmy Fallon und seiner Studioband veranstaltet, der kann sich durchaus vorstellen: Sie ist gekommen, um zu bleiben.
Ein bisschen kitschig, ein bisschen billig – aber irgendwie charmant. Wer sich heute alte „Star Search“-Folgen auf YouTube ansieht, würde nicht glauben, dass mit dieser Sendung zwischen 1983 und 1995 Fernseh- und Musikgeschichte geschrieben wurde. Menschen, die überzeugt waren, ein Talent für etwas zu haben, traten in verschiedenen Kategorien an. Eine unaufgeregte Jury vergab Punkte – der Sieger kam eine Runde weiter. Einfach so.
Die Konkurrenz zog bald nach, setzte auf mehr Blingbling, mehr Show, mehr Drama und inszenierten Nervenkitzel. Sie hatte bald mehr Zuschauer und schließlich wurde das Original eingestellt. Aber die meisten Stars hat immer noch „Star Search“. Sogar während des kurzen Comebacks von 2003/2004:
Beyoncé/Destiny’s Child, Justin Timberlake, Usher, Britney Spears, LeAnn Rimes, Tiffany, Aaliyah, Alanis Morissette, Beth Hart, Backstreet Boys, Tinashe, Christina Aguilera, Pitbull, Dave Chappelle, Sharon Stone ...
Carly Rae Jepsen
Die neuen Shows punkten mit Spannung und der öffentlichen Demütigung der Teilnehmer durch die Juroren. Das bringt Quoten – für zukünftige Stars lässt es aber wenig Platz. Umso erstaunlicher, dass es Künstlerinnen wie Camila Cabello, Carly Rae Jepsen, Kelly Clarkson oder Jennifer Hudson dennoch geschafft haben.
„Deutschland sucht den Superstar“ basiert auf der Vorlage der britischen Sendung „Pop Idol“.
Das österreichische „Starmania“ orientiert sich an „Pop Idol“, gilt aber als eigene Entwicklung und wurde unter „MusicStar“ von der Schweiz übernommen.
„The X-Factor“ wurde 2004 in England konzipiert, lief kurzfristig auch in den USA und anderen Ländern.
„American Idol“ (2002–2016) war das Vorbild vieler Castingshows, unter anderem „Deutschland sucht den Superstar“.
„Britain’s Got Talent“ wird von Kritikern gerne als „Freak Show“ abgekanzelt. Wurde seit 2006 dennoch in knapp 50 Länder exportiert.
Kommentare