Buchkritik: Das Verschwinden des Josef Mengele
Er stand an der Rampe, pfiff ein paar Noten aus „Tosca“ und kommandierte die Ankommenden nach links, in die Gaskammer, oder nach rechts, zum Tod durch Zwangsarbeit bzw. in sein Labor, wo er sich als großer Wissenschaftler und Ingenieur einer „Herrenrasse“ vorkam .
Er brockte rund um Auschwitz Heidelbeeren fürs Marmelade-Einkochen, während in der Nähe in einer Grube ungarische Juden bei lebendigem Leib verbrannt wurden.
Und trotzdem stellt man sich den Lagerarzt
Josef Mengele besser nicht als Monster oder „Todesengel “ vor.
Sondern bloß als bösen mittelmäßigen Mann. Die Bösen sind Mittelmaß.
Der Franzose Olivier Guez, ein preisgekrönter Autor aus Straßburg, hat in Mengele hineingeschnitten; und herausgeholt hat er, wieso und wie er nach dem Krieg in Südamerika drei Jahrzehnte lebte – bis 1979: bis er an einem brasilianischen Strand eines natürlichen Todes starb.
Ohne Gerichtsverfahren, aber mit legalem deutschen Pass auf seinen richtigen Namen. Ohne Konfrontation mit Opfern bzw. deren Angehörigen, aber in ständiger Angst und mit einem letzten Gespräch mit seinem entsetzten Sohn:
„Hattest du denn für die Kinder, Frauen, Greise, die du ins Gas geschickt hast, nie Mitleid empfunden?“ – „Das Gewissen ist eine widernatürliche, von kranken Menschen erfundene Instanz ...“
Hohe Mauer
Diese Szene ist der einzige Dialog in ’ „Das Verschwinden des Josef Mengele“. Hier UNTERHÄLT sich niemand, sondern hier wird seziert.
Es wird nüchtern berichtet. In den wenigen Lücken, die das Historische lässt, wird aus dem Bericht ein Roman. Denn manchmal muss ein Gefühl ausbrechen können.
Wobei keine Gefahr besteht,
Guez könnte Mengele näher kommen: Die Mauer zwischen ihnen bleibt nicht nur, sie wurde während der jahrelangen Arbeit (sagt der Autor im Interview) höher und höher.
Recherchiert hat er in Argentinien, wo Perón in den 1950ern Nationalsozialisten, Faschisten, Ustascha, Pfeilkreuzler ... um sich scharte, im lächerlichen Glauben, das Land dadurch zur Supermacht zu machen.
Perón wurde gestürzt, ... Adolf Eichmann, ein Organisator der Deportation und Massenvernichtung, der mit Wäscherei und Kaninchenzucht gescheitert war, wurde vom Mossad nach Israel entführt und dort hingerichtet ... Mengele, nun mit Haftbefehl gesucht, flüchtete weiter nach Paraguay, Brasilien.
Es ist angesichts seiner Teufeleien verständlich, dass es relativ wenige Bücher über ihn gibt. Schwer auszuhalten. Aber dieses Buch KANN man nicht lesen – man braucht es, will man dazulernen.
Olivier Guez:
„Das Verschwinden des Josef Mengele“
Übersetzt von
Nicola Denis.
Aufbau Verlag.
224 Seiten.
20,60 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern
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