Yasmina Reza: Erinnerungen sind Monster oder Schein

Yasmina Reza: Erinnerungen sind Monster oder Schein
Ihr neues absurdes Theater heißt "Serge": Ein Familienausflug nach Auschwitz

Wie kann man sich an etwas erinnern, das man nicht erlebt hat?

Wieso soll es „Erinnerungskultur“ sein – wenn Schulklassen durch das ehemalige Vernichtungslager geführt werden und vor dem Portal „Arbeit macht frei“ Fotos machen?

„Wir fahren nach Auschwitz.“

„Das ist doch kein Ort!“

Keine Spuren

Die Französin Yasmina Reza („Gott des Gemetzels“) ist eine der meistgespielten Theaterautorinnen.

„Serge“ ist das neue absurde Theater in Romanform. Manchmal denkt man an Kolumnen von Lily Brett. Beide untersuchen Verwandtschaft, beiden reichen wenige Worte, damit man die vorher so fremden Menschen spürt, als wären sie in die eigene Wohnung eingedrungen und streiten miteinander und umarmen sich und haben einander lieb.

Das passt zusammen.

Yasmin Reza sagt, sie bewahre keine Spuren ihrer jüdischen und iranischen Wurzeln.

„Ihre“ Geschwister Popper – Serge, Jan, Nana (zwischen 60 und 50 Jahre alt) – haben sich nie für ihre Vorfahren interessiert ...

Serge, der Älteste. Hat’s zu nicht viel gebracht. Jetzt warf ihn auch noch seine Frau hinaus, zu Recht. Serge hatte beim Leben der Tochter geschworen, dass er sie nicht betrogen hat.

Hingegen Jean (er ist der Erzähler). Netter Mann. Fader Mann. Nana ist die Jüngste. Aber nicht so jung, wie sie sich gern macht.

Sie haben Vater (längst tot) und Mutter (eben gestorben) z.B. nie gefragt, wie sie in Wien den Nazis entkommen sind bzw. wie die Großeltern ermordet wurden.

Sie wurden nicht jüdisch erzogen. Ihre Mutter hatte für Israel nichts übrig. Und ließ sich justament verbrennen. Vater hätte die Kinder gern in die Synagoge mitgenommen – keine Chance.

Jetzt fahren Serge, seine Tochter, Jean und Nana nach Auschwitz. Schau, so viele Blumen auf den Straßen! Willst du wirklich noch ein Sandwich mit Ei essen? Schau die Rampe! Schrecklich. Komm in die Gaskammer! Entsetzlich. Du hast doch schon Salat gegessen!

Auch der israelische Schriftsteller Yishai Sarid hat den KZ-Tourismus zum Thema gemacht, 2019 in „Monster“ (Verlag Kein & Aber). Erinnerung kann ein Monster sein, eine unerträgliche Last.

Oder Schein, wie bei den Poppers. Was sollen Kerzen in Auschwitz? Herausgepresste Tränen? Serge bleibt die meiste Zeit im Auto sitzen („Die kriegen den Hals nicht voll vom Unglück“).

Der Roman zieht sich wie eine Schnur um den Hals zusammen. Vorerst muss man trotzdem grinsen. Am Ende nicht mehr.

Niemals vergessen dürfen wir, um „es“ nicht wieder zu tun? Yasmina Reza: „Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos.“


Yasmina
Reza:
„Serge“
Übersetzt von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel.
Hanser Verlag.
208 Seiten.
22,95 Euro

KURIER-Wertung: ****

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