Urgroßonkel Isidors Geschichte ist unsere Geschichte

Urgroßonkel Isidors Geschichte ist unsere Geschichte
Die Berlinerin Shelly Kupferberg auf Spurensuche, die bei den Rehen auf dem Zentralfriedhof endet

Isidor liegt auf dem Zentralfriedhof, 4. Tor, wo es mehr Rehe als Besucher gibt. Für ihn durfte noch ein Grabstein gekauft werden, später ordneten Nationalsozialisten an: Bei Juden reicht eine Tafel – auf einem Eisengestell oder auf dem Boden.

Dr. Isidor Geller, geboren 1890 in einem ostgalizischen Winkerl als Sohn armer Leute, gestorben 1938 als Multimillionär in der Metropole Wien, wo er im Palais in der Canovagasse eine Etage bewohnte. Jeden Sonntag kam eine Gesellschaft aus Politik und Kultur zum Mittagessen zum Kommerzialrat, der Rechtsanwalt war, aber es im Handel mit Leder und Aktien zu Reichtum brachte.

Isidor war der Urgroßonkel der Berliner Journalistin und Radiomoderatorin Shelly Kupferberg (Foto oben). Seine Geschichte ist unsere Geschichte, mit der man sich Klarheit verschaffen kann. Shelley Kupferberg war auf Spurensuche, und die hat sich ausgezahlt. Sogar eines der geraubten Bücher aus Isidors Bibliothek hat sie gefunden ...

Er hat gedacht, der Antisemitismus gehe vorüber. Er hat gedacht, einem wie ihm, der so gut verankert ist, wird nichts geschehen. Er hat gedacht, man wird anerkennen, was Juden geleistet haben.

Hollywood

Seine drei Bediensteten lieferten Isidor ans Messer. Seine einstige Geliebte, die in Hollywood unter dem Namen Ilona Massey Karriere machte, hat ihm nicht geholfen. Er wurde 1938 verhaftet, verprügelt, das Vermögen wurde kassiert, er starb.

„Isidor“ gibt nicht vor, ein Roman zu sein. Eine wichtige Reportage ist es, die Kupferbergs Großvater einschließt, Isidors Neffen, der 1956 nach Wien zurückkehrte. Glücklich durch die alten Gassen gehend. Tief einatmend im Theater sitzend.

Und dann stand er auf dem Bauernfeldplatz vor jenem Haus, in dem er die ersten 19 Lebensjahre gewohnt hatte. Er läutete im dritten Stock. Es öffnete ... die Hausmeisterin: „Der Jud’ ist wieda da!“ Bevor sie die Tür zuwarf, erkannte er die Möbel seiner Eltern. Da wusste er, dass er nach Israel zurück musste.

Es sieht so aus, dass sich Shelly Kupferberg während ihrer erfolgreichen Recherchen ein bissl verliebt hat in Wien – „großstädtisches, aber gleichzeitig angenehm ruhig dahinschnurrendes Alltagsleben.“ Bei ihrem nächsten Besuch wird sie nicht mehr DER Schlagobers sagen.


Shelly Kupferberg:
„Isidor“
Diogenes Verlag.
256 Seiten.
25,50 Euro

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

Kommentare