... und wieder 19 Bücher, ganz kurz

... und wieder 19 Bücher, ganz kurz
Diesmal mit Peter Patzak, Ingrid Noll, mit einem israelischen Comics und Lyrik aus dem AKH, mit Leistungsträgern und der Unterwelt

Der Traum vom Leben mit Fischen

Kinderbuch. Manchmal dauert es recht lange, bis ein Traum in Erfüllung geht. Jonas war zwei, als er  erstmals im Meer leben wollte.  Die Eltern fischten ihn aus dem Wasser.
Die Amsterdamer Trickfilmerin Marlies van der Wel zeigt: Weitermachen lohnt sich. Wieder scheitern. Besser scheitern. Mit 80 schafft es  Jonas  – in dem Buch „Seesucht“.

Zeichnung oben aus dem Buch miut freundlicher Genehmigung des Verlags

Marlies van der Wel: "Seesucht" Mixtvision Verlag.
78 Seiten. 20,90 Euro

KURIER-Wertung: ****

 

Peter Patzaks erfolgreiche Suche

Gemeindebau. Monate  vor seinem Tod suchte Regisseur Peter Patzak die verlorene Zeit: seine Jugend im Gemeindebau, Friedrich-Engels-Platz, Wien-Brigittenau. 1955, Aufbruchsstimmung. Was aus den anderen Buben – Silberfischauge, Schweißfuß, Fischi .. – geworden ist. Wie ihn die Seiltänzerin angelächelt hat. Das ist traurig, das ist beglückend. So war Patzak auch als Autor.

Peter Patzak:
„Wo bitte wohnt Herr Friedrich
Engels? oder Mein 1955-Film“
Echomedia Verlag.
166 Seiten. 19,90 Euro
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

 

Indiana Jones im Westjordanland

Comics. Wenn eine israelische Archäologin die Bundeslade mit den zehn Geboten ausgerechnet unter der Mauer zum Westjordanland vermutet (und gräbt), wird das zu Indiana Jones mitten im Nahostkonflikt. Das ist ernst, satirisch, abenteuerlich – gezeichnet und geschrieben von der Künstlerin Rutu Modan in der Klarheit von „Tim und Struppi“. Ein Comics und ein Roman, beides top.

Rutu Modan:
 „Tunnel“
 Übersetzt von Markus Lemke.
Carlsen Verlag.
280 Seiten. 28,80 Euro
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

 

Die Verwandlung war ein Fehler

Novelle. Dieser Liebeskummer ist kaum zu ertragen, nicht nur für die sitzengelassene Frau, sondern auch beim Lesen. Sie kann damit nicht umgehen und lässt sich – im Internet wird alles angeboten – in einen zotteligen Hund verwandeln. So kann sie dem Geliebten nahe sein und wird immerhin gekrault. Ein schwerer Fehler. Diese niederländische Novelle verstört gleich mehrfach.

Alma Mathijsen:
 „Ich will kein Hund sein“
 Übersetzt von Andreas Ecke.
C.H. Beck Verlag.
159 Seiten. 18,50 Euro
KURIER-Wertung: ****

 

Ausklang am AKH-Fenster

Gedichte. Er steht im 21. Stockwerk des Wiener AKH, die Diagnose ist nicht gut. Wie immer will Peter Paul Wiplinger dichten, aber nicht mehr über das Schöne. Nur noch darüber will der 81-Jährige schreiben: Was ist und was nicht (mehr) ist. Das traurigste Buch der Woche:
ob spuren von dir
bleiben fragst du
was für eine frage
nein natürlich nicht

Peter Paul Wiplinger:
 „Ausklang“
 edition pen Löcker.
105 Seiten.
19,80 Euro
KURIER-Wertung: ****

 

Der Weg führt über "tschulpi"

Kammerspiel. Der erste Roman der Oberösterreicherin Renate Silberer. Da wird noch Schönes folgen. Vier Manager bzw. Hüllen, voll mit Arbeitseifer, bewerben sich um einen Geschäftsführerposten einer Werbeagentur. Im Auswahlseminar müssen sie sagen, was  tschulpi ist. Und sich die Socken ausziehen. Das wird ein freches Begutachten von Leistungsträgern.   Tschulpi ist das Erkennen: Der Mensch ist mehr als sein Beruf.

Renate Silberer:
 „Hotel Weitblick“
 Kremayr & Scheriau Verlag.
240 Seiten.
20 Euro
KURIER-Wertung: ****

 

Aus einer verlorenen Welt

Briefe. Wie aus einer vergangenen Welt: Ein Vater schreibt seinen Kindern, die in ferne Schulen gehen, regelmäßig Briefe. Es ist Hans Fallada („Kleiner Mann – was nun?“) Er schrieb über seine Arbeit, er schrieb in Liebe und aus Fürsorge. „Das muss man versuchen zu erreichen, dass man nicht irgendetwas tut, bloß um etwas zu tun, sondern dass man etwas tut, das einen freut ...“

Hans Fallada:
 „Meine lieben jungen Freunde“
 Aufbau Verlag.
144 Seiten.
16,50  Euro
KURIER-Wertung: ****

 

Blähungen sind nicht so schlimm

Debüt. Der Bezirk Zell am See droht, finnisch zu werden. Der alte nordische Glaube, bei Erkältungen hilft es, den Gestank von Blähungen einzuatmen, wäre nicht das Schlimmste. Götter und Geister aus Lappland machen sich bemerkbar, während die Blasmusik aufmarschiert. Der erste Roman des Salzburgers Bonimair ist ausgelassen, experimentierfreudig, eine geglückte Talentprobe.

Roland Bonimair:
 „Zum Goldenen Rentier“
 Verlag Landam Saivo.
141 Seiten.
18,90 Euro
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern

 

Es muss sein, aber nicht auf der Bühne

Theater. Sechs Bühnenstücke, die nicht unbedingt die Bühne brauchen, die gut zu lesen sind. Krieg und Nationalsozialismus – es treten auf: Schnitzler, die Trapp Familie, Montessori, Schwarzwald, Frau Cermak ... Korherr war Co-Autor vom „Jesus von Ottakring“, verfilmt mit Rudolf Prack in seiner letzten, seiner reaktionärsten, mörderischsten Rolle. Auf YouTube komplett zu sehen.

Helmut Korherr:
„Für ein gutes Heute und ein besseres Morgen“
Ephelant Verlag.
262 Seiten. 22 Euro
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern

 

Liebe und Wut nach dem Krieg

Italien. Der Neapolitaner hat schon über das Gewicht der Schmetterlinge nachgedacht und über einen Wilderer, der niemals Steinböcke schoss. Diesmal: ein Bub und das Meer bei Ischia in den 1950ern und die erste Liebe. Aber das ist Erri De Luca zu wenig, deshalb kommt bei dem 16-Jährigen auch Wut hinzu. Wut auf die Italiener, die im Krieg nicht aufbegehrt haben.

Erri De Luca:
  „Meer der Erinnerung“
 Übersetzt von Tobias Eisermann.
Ullstein Taschenbuch.
144 Seiten. 12,90 Euro
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

 

Wo noch leise der Fist weht

Dialekt. Auch wer gaunz wou aunascht dahuam ist (wo anders daheim), wird an dem Sprachschatz Freude haben: Burgenländisch, vorgestellt vom Leiter der Landesbibliothek des Burgenlands. Wobei es Foaferln auch in Wien gibt, dümmliche Menschen (weibl.). Aber Darihaxlwiesl – Wiesel mit dünnen Füßchen – laufen nur am Neusiedler See. Dort weht noch der Fist, ein ganz kleinen Furz.

Jakob Michael Perschy:
  „Hundert Wörter Burgenländisch“
Edition lex liszt.
124 Seiten.
21 Euro
KURIER-Wertung: ****

 

Als Touristen in die Stadt kamen

Wien. Wien ist anders, und Wien bleibt Wien: Zum Beweis dafür (und dafür) hat der deutsche Kunsthistoriker  Rainer Metzger 25 prominente Besucher und Bewohner  aufgeboten, von Marc Aurel über Johann Strauss bis Thomas Bernhard und John Lennon. Manchmal erfährt man mehr über diese Personen als darüber, wie sie Wien sahen. Lennon war ja nur im Sacher. (Was freilich auch nicht übel ist.)

Rainer Metzger:
 „Willkommen in Wien“
 Molden Verlag.
192 Seiten.
28 Euro
KURIER-Wertung: ****

 

"Best of" mit Lieber und Liebste

Gedichte. Lieber, Liebste Liebes, Liebstes – die Anrede muss keine Liebeserklärung sein. Sie kann auch gönnerhaft klingen, belehrend, unangenehm. Allein schon der Buchtitel gibt viel her. Gerhard Ruiss’ Gedichte haben aber nur am Rand damit zu tun. Der Band ist ein „Best of“.

wo geld ist
ist macht
wo keines ist
ist es angebracht.

Gerhard Ruiss:
 „lieber, liebste, liebes, liebstes.“
Literaturedition Niederösterreich.
224 Seiten.
20 Euro
KURIER-Wertung: ****

 

Viel mehr als ein Krimi

Historisch. Schon beim ersten Satz merkt man, da kommt etwas Besonderes. 1.) Historisch, weil man  das Jahr 1491 in einem englischen Dorf  wirklich miterlebt (samt Scheiterhaufen). Und 2.) weil die mächtige Kirche in Gestalt eines Pfarrers das Verschwinden des einzigen Reichen ermittelt (und der wegen des Beichtgeheimnisses durchgebeutelt wird). Viel mehr als ein Krimi.

Samantha Harvey:
 „Westwind“
 Übersetzt von Steffen Jacobs.
Atrium Verlag.
350 Seiten.   22,70 Euro
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

 

Ein Glas Soda für alle

Minsk. Die Vorstellung macht Angst: Auf der Straße stehen Automaten für Sodawasser mit Fruchtgeschmack. Es gibt nur ein Glas zum allgemeinen Gebrauch. Niemand denkt an Schlimmes. Heiter bis wolkig wird das Heranwachsen in Weißrussland erzählt, als die Sowjetunion „munter vor die Hunde geht.“ Der Aberglaube ist groß: Nie auf Kanaldeckel steigen, sonst sterben die Eltern.

Volha Hapeyeva:
  „Camel Travel“
 Übersetzt von Thomas Weiler.
Droschl Verlag.
128 Seiten. 18 Euro
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern

 

Nicht nur Kreislaufprobleme

Krimi. Jetzt hat der Wiener Christian Klinger erstmals einen Unsympathler in den Mittelpunkt gestellt. Einen Anwalt mit Kreislaufproblemen, der in entscheidenden Momenten ohnmächtig wird. Als er in einem Hotel neben einer ermordeten jungen Frau aufwacht, braucht er einen Kaffee. Ein nie da gewesener Spagat: Der Kriminalfall hat mit Parkplätzen und Vignetten zu tun.

Christian Klinger:
 „Tote Vögel singen nicht“
 Ueberreuter Verlag.
192 Seiten.
14 Euro
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern

 

"Püppi" sagt man nicht

Wohngemeinschaft. Zeiten, als der Hahn tot war (= früherer Buchtitel) und der Abendhauch kalt war (=  früherer Buchtitel) sind längst vorbei. Ingrid Noll unterhält mittlerweile wenig kriminalistisch. Immerhin findet ein Masseur, der alle Frauen „Püppi“ nennt, kein schönes Ende. Sonst sind wir inmitten einer illustren WG, die eine alte, gern Fleischlaberl essende Frau zwecks Pflege um sich schart.

Ingrid Noll:
 „Kein Feuer kann brennen so heiß“
 Diogenes Verlag.
293 Seiten.
24,70 Euro
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern

 

Ihn darf man nicht vergessen

Dokument. So viel hat er in seinem Leben angestoßen, bewegt, erreicht – trotzdem kennt heute seinen Namen fast niemand. Ein Essay über Zeitungsgründer Carl Colbert  (1929) ist ein Essay über Österreich. Colbert war Kämpfer für Kinder- und Frauenrechte und gegen Diktatur. Er prägte in Wien Kultur und Wirtschaft.  So viele gibt’s ja nicht. Er muss unvergessen sein.

Alexander Emanuely:
 „Das Beispiel Colbert“
 Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft. ISBN 978-3-901602-85-6
656 Seiten. 36 Euro
KURIER-Wertung: ****

 

Das Unsichtbare entdecken

Untergrund. Es gibt eine andere Welt, aber hier unter unseren Füßen. Die Reisen in den Untergrund bedeuten Furcht vor Dunkelheit und Verlangen nach dem Unsichtbaren. Beim New Yorker Will Hunt ist das Verlangen stärker ausgeprägt.  In den Minen der Anden war er, in türkischen Höhlenstädten, Pariser U-Bahn-Schächten ... Sein Buch öffnet versteckte Türen, auch im Kopf.

Will Hunt:
 „Im Untergrund“
 Übersetzt von Anke Caroline Burger.
Liebeskind Verlag.
320 Seiten. 24,90 Euro

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

 

 

 

 

 

 

 

 

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