... und wieder 17 Bücher, ganz kurz
Eine Tür zu vergessenen Objekten
Fotografie. Cornelia Leitl fotografiert vergessene Objekte: Weil sie sich wundert und ärgert, dass in Österreich täglich zehn Hektar Wiese zubetoniert werden. Aber Fabriken, Kornspeicher, ein ehemaliges Sanatorium ... sogar ein Schloss stehen leer, sie werden nicht gekauft, nicht saniert und verfallen. Der allein stehende Türstock - Foto oben - im niederösterreichischen Schleinbach führte einst in eine Ziegelei. In diesem Fall kann sich die Wiener Fotokünstlerin (und Naturschützerin) aber freuen, denn ein Pferdegestüt ist dort am Entstehen. „Worauf warten wir?“, fragt Cornelia Leitl. Ein bissl mehr Text im Buch wäre nicht schlecht gewesen. Aber sie hält's wohl damit: Unser Gehirn beurteilt nach dem Sehen ...
Cornelia Leitl: "Vergessen" myMorawa. 28,30 Euro
KURIER-Wertung: ****
Gerüche und Farben sind Sprachen
Fische. Einen Kopf voller Geschichten zum Weitererzählen, den bekommt man: dass die Welt unter Wasser viele Gerüche hat, nach denen sich Fische orientieren können. Dass Duft und Farben Sprachen sind. Und dass das Meer voller Töne ist. Es brummt. Donnert. Prasselt. Schiffe machen Lärm, aber auch – Seeigel. Im übrigen sind Menschen ... Korallen, irgendwie.
Bill François:
„Die Eloquenz der Sardine“
Übersetzt von Frank Sievers.
C.H. Beck Verlag.
234 Seiten. 22,70 Euro
KURIER-Wertung: ****
Die Botschafter bringen Kaki
Küche. Im Café Gratitude in L.A. heißen die Kellner nicht Kellner, sondern Botschafter. Sie vertreten die Pflanzenküche. Der Chefkoch ist Buddhist und will dienen. Schauen wir ins Kochbuch der Kalifornier: Kohlsprossen im Rohr mit Miso und Ahornsirup. Schwammerlsandwich mit Krautsalat, Schüssel mit Kohl, Bohnen, Reis ... Den Kaki-Auflauf muss man nicht unbedingt bestellen.
Seizan Dreux Ellis und Rachel Holzman: „Love is Served“
Fotos von Lisa Romerein. Übersetzt von Gabriele Kalmbach. Sieveking Verlag. 336 Seiten. 41,10 Euro
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
Cocktail mit einer Blumendiebin
Poesie. Der Schmetterling ist heute so laut, die Amsel flucht – kann man Sex mit einer Orchidee haben? Dieser betrunken machende Poesie-Cocktail hat, gewissermaßen als kandierte Kirsche, eine Frau im Zentrum, die nachts im Park Sonnenblumen stiehlt und sie dann verschenkt. Bei Karin Ivancsics ist Lesen wie im Garten sitzen und staunen, vor allem (aber nicht nur) über die Natur.
Karin Ivancsics:
„Aufzeichnungen einer
Blumendiebin“ Nachwort von Petra Ganglbauer. Klever Verlag.
82 Seiten. 18 Euro
KURIER-Wertung: ****
Freiwillig in Ketten legen lassen
Kaiser. Die Welt verstehen, um sie dann zu verändern: Vor seinen Reformen reiste Kaiser Joseph II., der Sohn von Maria Theresia, inkognito durch sein Riesenreich, "Graf von Falkenstein" nannte er sich, und dass er sich sogar für einige Stunden in Ketten legen ließ, um Strafe zu spüren, damit beginnt Monika Czernin ihr Buch. Josef II. war es ernst, "erster Diener des Staates" zu sein. Der Reisebericht schlängelt sich auch durch den Kopf des Habsburgers.
Monika Czernin: "Der Kaiser reist inkognito" Penguin Verlag. 384 Seiten. 22,70 Euro
KURIER-Wertung: ****
Es werden noch viele untergehen
Inseln. Sie kommen und gehen – außer in Büchern: Da sind Inseln fest verankert, es gibt mehr denn je über sie zu lesen. Der englische Geograf Bonnett beobachtet Inseln, die wegen der Klimakatastrophe untergehen – und Inseln, die künstlich gebaut werden, für Wohnraum, Unterhaltung, Militär. Sind wir verrückt? Ja, weil wir mit so viel Energie Nachhaltigeres stemmen könnten.
Alastair Bonnett:
„Das Zeitalter der Inseln“
Übersetzt von Andreas Wirthensohn. C.H. Beck Verlag.
246 Seiten. 23,70 Euro
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
Ein Fest mit Minzsirup
Erzählungen. Acht Seiten von der Wiener Schriftstellerin Tatjana Gregoritsch über ein Fest in der Provinz (noch dazu bei Prosecco mit Minzsirup) – und du willst Einsiedler sein. Es sind 16 Erzählungen im Buch, die besten haben Monolog und Dialog. Wenn eine Frau nicht Raffer heißen will, sondern Wittgenstein heißen mag (aber halt einen Raffer geheiratet hat): Viel Freude mit ihr!
Tatjana Gregoritsch:
„Fest am Land“
edition pen / Löcker Verlag.
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
Wer ein kleines Bier will, braucht Buntstifte
Alltagspoeten. In Wien liegt die Poesie auf der Straße. Andreas Rainer hebt sie, nach drei Jahren in Nordamerika, seit 2017 mit großem Vergnügen auf, bringt sie in Form ... und das klingt dann zum Beispiel so: Billa Längenfeldgasse: "Kann ich die Kondome umtauschen?" - Verkäuferin: "Wieso, san's zu groß?" Und im Schweizerhaus im Prater: "Ein kleines Bier bitte." - Kellner: "Soll ich Ihnen ein Malbuch und Buntstifte dazu bringen?"
Andreas Rainer: "Wiener Alltagspoeten" Milena Verlag. 100 Seiten. 20 Euro
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
Prof. Welser gibt Antwort
Kinderbuch. Der Rechtsgelehrte Rudolf Welser war ein gefürchteter Prüfer im Wiener Juridicum, nun tritt er, 81 Jahre alt, sozusagen als weiser Alter auf, der den Kindern in Gedichten erklärt: Was ist Recht? Was ist der Unterschied zu Gerechtigkeit? Und was macht das Gericht? Man kann nicht früh genug damit konfrontiert werden. Dann mangelt es später vielleicht nicht an Respekt.
Rudolf Welser:
„Mama, Papa, was ist Recht?“
Illustriert von Robert Fucik.
Manz Verlag.
64 Seiten. 18,80 Euro
KURIER-Wertung: ***
Von Ottakring zu Janus Pannonius
Europa. Jetzt kann es zwar vorkommen, dass man überhaupt nichts wissen will über Janus Pannonius. Nimmt uns allerdings Gauß zu dem Bischof ins 15. Jahrhundert nach Dalmatien mit, dann wird alles interessant. Gauß reist von der Ottakringer Straße nach Siena, in ein serbisches Dorf, ins einst reichste Kloster Frankreichs ... sogar Óndra Łysohorsky ist einen Essay wert.
Karl-Markus Gauß:
„Im Wald der Metropolen“
Unionsverlag. Taschenbuch
304 Seiten.
13,90 Euro
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern
Sie leben nicht in dieser Stadt
Palermo. Es ist ein Anti-Reiseführer, aber mit viel Liebe zu seiner Heimatstadt geschrieben. Auch wenn Palermo vor Mist überquillt – die Bewohner sagen: „Ich lebe nicht in dieser Stadt, ich lebe bei mir zu Hause.“ Es ist nicht so einfach, etwas zu ändern: Auf jeden Jungen, der eine Vision hat, kommt ein Tisch mit vier geschäftigen Erwachsenen, die sagen: „Was bringt mir das?“
Roberto Alajmo:
„Palermo ist eine Zwiebel“
Übersetzt von Karin Krieger und Moritz Rauchhaus. Wagenbach Taschenbuch. 176 Seiten. 13,40 Euro
KURIER-Wertung: ****
Die Tochter rebelliert auch nach 100 Jahren
Roman. Die Wiederentdeckung ist noch nicht vollständig: Der Debütroman der Wienerin Maria Lazar (1895 - 1948), porträtiert von Kokoschka, Förderin von Canetti, gut bekannt bei Loos und Friedell, liegt 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung wieder im Buchhandel. "Die Vergiftung" handelt vom gutbürgerlichen Kerker unter Mutters Regiment. Die 20-jährige Tochter rebelliert. "Nichts als Abgründe, Löcher, Klüfte, Leersein und Alleinsein."
Maria Lazar: "Die Vergiftung" Nachwort von Johann Sonnleitner. DVB Verlag. 196 Seiten. 22 Euro
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
Ihre letzte Arbeit für den Russen
Klassiker. Mit diesem Roman beendete Swetlana Geier ( 2010) ihre Übersetzungsarbeit am Werk Dostojewskijs. 20 Jahre hatte sie mit dem Russen verbracht, und wenn man ihr sagte, „Ein grüner Junge“ – Vater und Sohn, Gut und Böse, Naiv trifft Listig – sei recht chaotisch, verwirrend, so freute sie sich: Genau das ist er – und deshalb ein moderner Roman, obwohl fast 150 Jahre alt.
Fjodor Dostojewskij:
„Ein grüner Junge“
Übersetzt von Swetlana Geier.
Fischer Taschenbuch.
841 Seiten. 16,50 Euro
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern
Mehr Macht den wahren Philosophen
Platon. Es heißt oft, die abendländische Philosophiegeschichte ist nur eine Reihe von Fußnoten zu Platon. Bei Thomas Alexander Szlezák von der Uni Tübingen erfährt man, warum. Wenn man ihm folgen kann. Denn ein „Platon für Dummies“-Buch ist das nicht. Was man bestimmt versteht: Platon wollte nicht, dass Politiker die Geschicke eines Staates lenken, sondern „ein wahrer Philosoph“.
Thomas Alexander Szlezák:
„Platon –
Meisterdenker der Antike“
Verlag C.H.Beck.
779 Seiten. 39,10 Euro
KURIER-Wertung: ****
Neuer "Reigen" fängt beim Schulwart an
Ringelspiel. Statt mit Dirne und Soldat ("Komm, mein schöner Engel!" - "Ah, ich bin der schöne Engel?") beginnt sich das neue erotische Ringelspiel mit einer 14-jährigen Schülerin und dem Schulwart zu drehen. Zehn Schriftsteller(innen) - Klemm, Balàka, Wisser, Stavarič ... - bitten zum "Reigen". 120 Jahre nach Schnitzlers Original fehlt zwar das Wien des Fien de Siècle, nicht aber der gesichtslose Sex - der Zeit entsprechend auch am Telefon.
Barbara Rieger (Herauseberin): "Reigen Reloaded" Verlag Kremay & Scheriau. 256 Seiten. 22,90 Euro.
KURIER-Wertung: ****
Eine Gondelfahrt vor 200 Jahren
Venedig. Christian Schnalke ist ein begehrter Drehbuchautor fürs Fernsehen (z.B. „Die Patriarchin“), und allein schon, wenn er eine finstere Gondelfahrt im Jahr 1818 beschreibt, merkt jede(r): Er kann auch historische Spannungsromane schreiben. Kunstwerke werden in Venedig gestohlen, die Gesellschaft ist morsch wie das Holz, auf dem die Paläste stehen.
Christian Schnalke:
„Die Fälscherin von Venedig“
Piper Verlag.
496 Seiten.
22,90 Euro
KURIER-Wertung: ****
Catull findet den Oxford-Mörder
Fall 11 für Inspector Morse. 13 Romane gibt es, dann ließ Colin Dexter seinen rauchenden, Malt Whisky liebenden Polizeibeamten sterben – Leber kaputt, Lunge kaputt. Herrlich „old fashioned“ ist die englische Krimireihe. Mitraten ist möglich, aber nicht ganz einfach. In diesem Buch wird ein Professor der Uni Oxford (AstraZeneca!) erstochen, dank Catull kann der Fall gelöst werden.
Colin Dexter:
„Die Töchter von Kain“
Übersetzt von Ute Tanner
Unionsverlag. Taschenbuch.
320 Seiten. 13,40 Euro
KURIER-Wertung: ****
Kommentare