So wird Vivaldi ein guter alter Bekannter
Es ist nicht allein die Musik, die aus dem Waisenhaus bei der Rialtobrücke dringt – heute übrigens noch immer, wenngleich ein Teil des einstigen Gebäudes, ein Übungsraum, zur Bar des noblen Hotels Metropole wurde.
Die Mädchen, von denen einige fünf Instrumente beherrschten und andere wie Engel sangen, waren unter Antonio Vivaldis Leitung bei den Konzerten nicht zu sehen. Sie musizierten hinterm Vorhang. Man konnte sich demnach vorstellen, dass schöne Musik von schönen Menschen stammt.
Aber unter ihnen waren nicht wenige missgestaltete Mädchen, weggelegt von ihren adeligen Eltern.
Oper mit Rinne
Es ist nicht allein Vivaldi mit seinen Schülerinnen, die diesen Roman beherrschen.
Schriftsteller Peter Schneider, 79, aus Berlin gibt auch der Republik Venedig um 1700 eine Hauptrolle. Deshalb gehören auch Prostituierte dazu, die in Gondeln standen und ihre nackte Brust zeigten, um einen guten Preis auszuhandeln.
Dazu gehören Vivaldis Opernaufführungen im Teatro Sant’ Angelo, wo vor der Bühne eine Rinne war, damit sich Besucher entleeren konnten. Wer mag sich solches vorstellen, heutzutage in der Staatsoper?
Und der Papst gehört dazu, der Vivaldi seine Schlapfen hinschob ... Vivaldi war ja Priester, ungern war er es, sein rotes Haar wollte er sich nicht durch die Tonsur verschandeln lassen, und Messen las der „Rote Priester“ so gut wie nie .. und der berühmte Komponist (und Geiger) musste die Schlapfen von Clemens XI. küssen, so scheußlich feucht von der Spucke der Gläubigen.
Wobei Autor Schneider nicht so tut, als wäre er mitten im damaligen Leben.
Er ist einer, der selbst vorkommt im Buch als derjenige, der heute alte Dokumente sichtet, und nahtlos gelingt es ihm immer, 300 Jahre zurück zu rutschen.
Zum Beispiel erwähnt er: Oft werde behauptet, Vivaldi habe mit seiner Lieblingsschülerin Anna, die er zum Opernstar machte, Unkeusches getrieben – aber es gebe keinerlei Beweis.
Und deshalb begnügt sich der Roman damit, Vivaldis und Annas Sehnsüchte zu beschreiben.
Dieses Buch – mit dem Ende: Armengrab in Wien – gibt einem das schöne Gefühl, ab sofort den Komponisten nicht nur mit seinen „Vier Jahreszeiten“ in Verbindung zu bringen.
Er nimmt jetzt gewissermaßen als guter Bekannter für immer daheim Platz.
PS: Die Rinne im Opernhaus ärgerte die reichen Logenbesitzer oben. Auch wenn es pressierte, der Weg war ihnen zu weit.
Peter
Schneider:
„Vivaldi und
seine Töchter“
Kiepenheuer
& Witsch.
288 Seiten.
20,60 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern
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