In Hessen baut Lilo Kowatz mit ihrem Erfolgsmodell „Kowatz Knielang“, einer bundesdeutschen Version des kleinen Schwarzen, ein Modeunternehmen auf. Mit dem neu entwickelten dehnbaren Stoff „Nylfrance“ will sie nun Badeanzüge für Frauen ab 40 verkaufen. Ihr Mann Harry ist bei Neckermann. Zuvor leitete er Busfahrten für Kriegswitwen, die sich bei ihm beschwerten, dass ihre tapferen Gefallenen auf denselben Friedhöfen wie feige Zivilisten begraben wurden.
Enteignet
Tochter Reni arbeitet unterdessen als Mannequin für die Modeschauengesellschaft des 15 Jahre älteren Fred. Dass er eigentlich Alfred Koropke heißt und seine Firma, wie viele andere insbesondere in der deutschen Modeindustrie, von der Enteignung jüdischer Unternehmen profitierte, weiß sie nicht. Ihr Leben dreht sich ums Dünnsein. Natürlich hat sie auch keine Ahnung vom Vorleben ihrer Eltern. Ihr lieber Papusch ist nicht, was er vorgibt. Eigentlich ist er schwul und kommt aus Belgrad. Und die ehrgeizige Lilo hat einst im besetzten Polen für die Vermittlung polnischer Kinder an kinderlose SS-Ehepaare gearbeitet und zu diesem Zweck deren Namen eingedeutscht. Ein Thomas würde es in der Schule doch viel leichter haben als ein Tomasz!
„Frühjahrskollektion“ heißt der neue Roman der 1972 in Heidelberg geborenen Schriftstellerin Christine Koschmieder. Mit einem Auszug daraus ist sie 2024 beim Bachmannpreis angetreten. Die Reaktionen waren geteilt. Wer das ganze Buch nun gelesen hat, dem erscheint die daraus vorgelesene Stelle schlüssig: Der elastische Stoff „Nylfrance“ ist eine gelungene Metapher für die Anpassungsfähigkeit vieler Deutscher (und Österreicher, aber die kommen hier nur am Rande vor) nach dem Krieg. Nun war’s Zeit für Wirtschaftswunder, von Naziverbrechen wollte niemand gewusst haben. Die Amis, die einem davon erzählten, die brauchte man schon gar nicht – wie hier ein einer Szene zwischen Lilo und einem jungen Amerikaner, der sich in Lilos Tochter verliebt hat, deutlich wird.
In „Frühjahrskollektion“ steckt viel drin. Der Bogen spannt sich vom sogenannten Ghetto Litzmannstadt in Polen während der deutschen Besetzung bis ins New York des aus Wien stammenden jüdischen Designers Rudi Gernreich und dessen „Monokini“. Manches hier ist fast zu auserzählt. Doch wer er sich verkneifen kann, nebenbei zu googeln (die historischen Details sind gut recherchiert), hat einen spannenden Roman vor sich, der Zeit- und Wirtschaftsgeschichte ein bisschen anders erzählt.