Percival Everett: Eine Name, den man sich endlich merken muss

Percival Everett: Eine Name, den man sich endlich merken muss
In „Erschütterung“ flüchtet ein Vater vor seinem kranken Kind. Er will jemanden retten, der Tochter kann er nicht mehr helfen

„Erschütterung“ ist unrund.

Der Roman stolpert und ändert die Richtung. Aber jeden Stein, jede Klapperschlange in der Wüste, jede heiße Schokolade in Paris ... jedes Hindernis, das sich der US-Amerikaner Percival Everett in den Weg legt, will man nicht missen.

„Erschütterung“ flüchtet. Rennt von dem Drama eines kranken Kindes, dem niemand helfen kann, davon.

Ist da vielleicht jemand anderer auf der Welt, den man retten könnte?

Ja.

Versteinert

Als vor acht Jahren sein Western „Gods Country“ herauskam, war klar: Diesen Schriftsteller muss man im Auge behalten. Das ist ein Western gegen Rassismus und gegen John Wayne (was dasselbe ist; außerdem fand John Wayne die Indianer egoistisch, weil sie ihr Land behalten wollten). Danach aber kam nichts mehr in deutscher Übersetzung.

In den USA ist Everett bekannt, in Frankreich und Italien hat er Fans. Er macht auch Musik und malt, ein Renaissancemensch. In mehr als 20 Romanen hat er alles Mögliche ausprobiert, aber stets bleibt er dabei:

Vom rechten Weg darf man kurz abkommen – niemals jedoch vom Pfad der Menschlichkeit.

In den Dialogen, die erschreibt, sind Witz und Trauer gute Partner.

Bei „Erschütterung“ muss man sich nicht mit der Realität aufhalten. Das ist eine erfundene Geschichte.

Obwohl es die neurodegenerative Erkrankung, die Sarah heimsucht – sie wird etwa zwölf Jahre alt sein –, gibt: das Batten-Syndrom. Schnell wird sie dement. Es gibt keine Heilung.

Sarah ist das Ein und Alles ihres Vaters. Zach Wells – Geologe, Paläobiologe, Unidozent – erforscht die versteinerte Vergangenheit. Jetzt ist er selbst versteinert:

„Das schlimmste Gefühl der Welt ist das Wissen, dass das eigene Kind sich ängstigt“ – wenn es gelähmt wird von Eiseskälte im Magen, wenn es merkt: Eltern können nicht alles gutmachen.

 

Es bei Everett zu erleben, wenn auch bloß lesend, hält man schwer aus.

Zach Wells findet im Gewand, das er bei eBay gekauft hat, Zettelchen mit der spanischen Nachricht: Ayudame! Hilf mir!

Er läuft davon. Lässt seine Ehefrau mit Sarah, die ihn nicht mehr erkennt, für ein paar Wochen allein. An der mexikanischen Grenze zwischen El Paso und Ciudad Juárez – Paradies für Mörder, das ist leider wahr – wurden Hunderte Frauen entführt. Zach Wells will sie suchen. Retten. Das klingt verrückt. Empfindet er selbst so. Sein Verhalten wird aber, zumal als Symbol der Erschütterung, nachvollziehbar.

Am Beginn des Romans hat er sich eingebildet: „Manchmal kommen die Dinge an einen Punkt, wo es einfach zu spät ist.“

Das stimmt.

Und nein, es stimmt überhaupt nicht.


Percival Everett:
„Erschütterung“
Übersetzt von
Nikolaus Stingl.
Hanser Verlag.
288 Seiten.
23,95 Euro

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

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