Nobelpreisträger Modiano: Detektiv für die Lücken im Gedächtnis

Nobelpreisträger Modiano: Detektiv für die Lücken im Gedächtnis
Mit "Unsichtbare Tinte" hat der Franzose weiter an der Kunst des Erinnerns geschrieben

Erinnern ist Pflicht, aber es gibt Leerstellen, von ihnen weiß man nichts mehr; und da sagt Patrick Modiano, der französische Nobelpreisträger aus dem Jahr 2014 (Foto oben):

Auch in diesen Lücken, diesen Gedächtnislücken, steht das Leben geschrieben, allerdings mit unsichtbarer Tinte , Zaubertinte – also weiße Schrift auf weißem Papier, sodass man das notierte Leben zunächst nicht sehen kann.

Erinnern ist Kunst, und da legen wir das oben Besprochene nun um auf folgende Geschichte – sie passt nahtlos in Modianos betörende Welt aus rund 30 Romanen (etwa „Im Café der verlorenen Jugend“, 2007, und „Unsere Anfänge im Leben“, 2017): Der Erzähler, ein junger Mann, der Schriftsteller werden will, jobbt für ein paar Monate in einer Detektei – auch in der Hoffnung, etwas zu erleben, das er später verwenden kann.

Privatsache

Er bekommt vom Chef den Auftrag, nach einer Frau Ausschau zu halten, die verschwunden ist, Noëlle Lefebvre heißt sie (vielleicht). Sie ist verheiratet (vielleicht). Allein das ist schon interessant genug: Welche Spuren hinterlässt man, wenn man weg ist?

Seine Suche, längst Privatsache geworden, wird ihn drei Jahrzehnte beschäftigen. Er begegnet Menschen, deren Wege einst zu Noëlle geführt haben, und weil „Unsichtbare Tinte“ von Modiano ist, ahnt man es ja rasch:

Der Erzähler selbst war Noëlle früher nah gewesen. Noch weiß er’s nicht. Eine alte Freundin von ihr meint, sie habe beide in einem Kaffeehaus sitzen gesehen.

Das ist seine Leerstelle, seine Gedächtnislücke. Patrick Modiano, er ist ja selbst immer als Detektiv unterwegs, wird dafür sorgen, dass vergessene Gedanken an die Oberfläche kommen. Wobei die Zeiten ineinander fließen – für diesen Autor sind Vergangenheit und Gegenwart bloß durch ein dünnes Papier getrennt.

Aber diskret, sodass man’s nicht unbedingt merkt, werden Fragen gestellt: Muss man allem auf den Grund gehen? Die Noëlle gut kannten, interessieren sich nur kurz für ihr Verschwinden. Vielleicht haben sie erkannt, dass es Orte geben muss, an denen alle ruhen sollten. Wieso braucht ausgerechnet ein nahezu Fremder eine Antwort?

So leicht. So schwer. So beglückend geheimnisvoll.

 

Patrick Modiano:
„Unsichtbare Tinte“
Übersetzt von
Elisabeth Edl.
Hanser Verlag.
144 Seiten.
19,60 Euro

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

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