Neues vom Amerikaner Cormac McCarthy nach 16 Jahren

Neues vom Amerikaner Cormac McCarthy nach 16 Jahren
Zwei Romane hintereinander: Zuerst „Der Passagier“, Ende November „Stella Maris“. So seltsam war er noch nie

Eine Legende ist zurück, 16 Jahre nach „Die Straße“, auf der Vater und Sohn nach der Apokalypse in Richtung Meer marschierten.

Cormac McCarthy hat sich in der Zwischenzeit unter die Wissenschaftler vom Santa Fe Institute gemischt und viel über Physik und Mathematik erfahren.

Das merkt man, wenn im neuen Roman jemand fragt:

„Was ist aus der Kaluza-Klein-Theorie geworden?“

Auch der Abelsche Higgs-Mechanismus kommt vor, und damit schließt McCarthy alle aus, die sich zu wenig Zeit nehmen wollen für das Buch des 89-jährigen Amerikaners.

Nur sieben

Wer weiterliest, wird dann allerdings Gespräche über Bohnen und Gott und Kennedy und Muschelsud vorgesetzt bekommen.

Wer weiterliest, bekommt zumindest phasenweise einen Thriller. Denn Bobby Western ist ein Bergungstaucher aus New Orleans. Vorher war er Physikstudent. Vorher war er Autorennfahrer. Im Golf von Mexiko liegt ein abgestürzter Privatjet. Bobby taucht, sieht sieben tote Passagiere auf ihren Plätzen, den toten Piloten, den toten Co-Piloten – Mund offen, Haare schwebend, „die Augen bar jeder Spekulation“.

Seit diesem Tauchgang verfolgen ihn Agenten der US-Regierung. Sein Kollege wird ermordet.

Denn es hätte ein achter Passagier an Bord sein müssen. Und die Tasche des Piloten. Und die Blackbox. Jemand vermutet, die Taucher haben etwas beiseite geschafft. Was ist „etwas“?

Ohne Geheimnisse geht auch bei McCarthy nichts. Da muss man kein Haruki Murakami sein.

Bobby Western hatte eine Schwester, Alicia. Ihr ist Cormac McCarthys Roman „Stella Maris“ gewidmet, der am 22. November in den Handel kommt, in Europa und in den USA. Stella Maris ist eine psychiatrische Anstalt. Alicia war schizophren. Eine geniale Mathematikerin war sie ebenfalls. Sie ist tot.

„Der Passagier“ und „Stella Maris“ kommunizieren miteinander. Sie gehören zusammen, zeigen zwei Wahrheiten, verschmelzen zu einem Werk. Verschmelzen zum seltsamsten Roman von Cormac McCarthy.

Stepptanz

Es gibt weniger Gewalt als in seinen früheren Büchern. Trotzdem müsste „Der Passagier“ abstoßen. Aber, es wird immer seltsamer, er zieht magnetisch an.

Schwester Alice verwirrt noch mehr als die Physik. Sie halluzinierte: Vor dem Schlafengehen kam oft ein Zwerg mit seiner Varietétruppe. Manchmal steppte der Zwerg.

Bobby Western hat Alicia geliebt, mehr als ein Bruder seine Schwester. So wie er jetzt lebt, will er die Schuld an ihrem Selbstmord auf sich nehmen. So wie er lebt, will er sich auch bestrafen, weil sein Vater an der Atombombe, die auf Hiroshima geworfen wurde, mitgearbeitet hat.

Der Zwerg, der wohl ein Teil von Alicias Psyche war, schaut nach ihrem Tod kurz bei Bobby vorbei. An seinem freien Tag, wie er betont.

Noch so ein Passagier. Alle sind wir Passagiere. Die Kaluza-Klein-Theorie muss man ja nicht unbedingt auf die Reise mitnehmen.


Cormac McCarthy:
„Der Passagier“
Übersetzt von Nikolaus Stingl.
Rowohlt Verlag.
608 Seiten.
29,50 Euro
Erscheint am 25. Oktober 2022

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

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