Marcel Prousts verstecktes Tagebuch
„Ich“ war er nur mit äußerster Vorsicht.
Gab es ein „Ich“ wie auf den rund 5000 Seiten „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, dann ein beobachtendes.
Wenn Marcel Proust über Homosexualität schrieb, durfte das „Ich“ keinesfalls mitspielen.
Zwar schob er sie sowieso gern von den Männern weg und delegierte die Homosexualität an Frauen. Aber sicher ist sicher, einen Skandal wollte er nicht provozieren.
Oscar Wilde, der recht offen mit seiner Homosexualität umging, war deshalb zwei Jahre im Zuchthaus gesessen. Das lag noch nicht gar so lange zurück.
Marcel Proust starb 1922.
2019 tauchten im Nachlass des französischen Verlegers de Fallois unbekannte Texte auf. Vermutlich hatte Proust sie niemandem gezeigt. Sie sind unfertig. Entwürfe, Skizzen, in denen er sich noch nicht festlegen wollte und variierte:
Blühten Emotionen schmerzhaft auf wie Blumen – oder wie Blumen der Verzweiflung? Sollen Lippen oder die Zunge einen Mundwinkel berühren?
Im Stadtpark
Herausgeber Luc Fraisse (Universität Straßburg) nimmt an, Proust habe die Erzählungen schreiben müssen – als eine Art geheimes Tagebuch, in dem er deutlicher die Homosexualität thematisiert.
Wenn man denn die Bilder zu deuten weiß.
Wenn sich ein traurig Verliebter täglich in den Pariser Stadtpark setzt und auf den See schaut, denkt man nicht zwangsläufig daran, dass er einen Mann vermisst.
Und warum er dann plötzlich vergnügt ist, bleibt überhaupt ein Rätsel: Proust verlor die Lust an der Geschichte und brach sie ab.
Voyeure werden von „Der geheimnisvolle Briefschreiber“ nicht angetan sein. Proust ist Proust ...
„Was deine Liebe angeht, hoffe nicht, dass sie jemals erwidert wird. Sie ist etwas zu Seltenes. Aber desto mehr lerne, sie zu verehren ...“
Und Françoise ist Françoise: In der Erzählung, die der Sammlung den Titel gibt, wird der Frau schriftlich das Geständnis einer Liebe übermittelt. Sie freut sich nicht, sie ist verheiratet, sondern wirft sich auf ihren Schemel, um eine halbe Stunde Jungfrau Maria um Hilfe zu bitten.
Der Mensch, der Françoise liebt, ist eine Frau. Und die wird sterben, denn Marcel Proust sah darin eine Möglichkeit, der „Schuld“ (so sah er es) an Schwere zu nehmen.
Homosexualität ist Leid: Solches Gedankengut ist schwer zu ertragen.
Feengeschichte
Es gibt eine Erzählung, in der wird der Mann von einem unsichtbaren Eichhörnchen getröstet. In einer anderen Erzählung bekommt ein Baby, männlich, „unverstandene Feinfühligkeit“ von einer Fee geschenkt („Alle Welt wird dir weh tun“) ...
Könnte sein, dass es sich um Vorbereitungen aufs große Werk handelte, in dem durch ein Stück Kuchen, das in den Tee getaucht wird, Erinnerungen aufsteigen ... sodass die verlorene Zeit im Alter noch nicht zur Gänze verloren ist.
Könnte aber auch sein, dass Proust die Texte einfach für nicht so besonders hielt und deshalb versteckte.
Bild oben: Die Fotografie von Marcel Proust wurde 2016 in Paris versteigert
Marcel Proust: „Der geheimnisvolle Briefschreiber“
Übersetzt von Bernd Schwibs.
Suhrkamp.
174 Seiten.
28,90 Euro
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
Briefe an seine Nachbarin
Na gut, es ist Proust. Insofern kann man sich schon anschauen, was er seiner Nachbarin geschrieben hat – Boulevard Haussmann 102, er im 1. Stock. Oberhalb arbeitete der amerikanische Zahnarzt Williams – ein Horror für den lärmempfindlichen Proust. Im 3. Stock lag die Privatwohnung von Williams und Ehefrau Marie. Mit ihr kommunizierte Proust, lustigerweise manchmal über die Post und den Briefträger.
Dass es sich bei den Briefen um einen „veritablen kleinen Roman“ handelt, ist hoffentlich nur ein Scherz des französischen Herausgebers. Madame verehrte Proust, Proust revanchierte sich mit Charme, Geist, Blumen und echter Sorge, als sie krank war. Er schrieb über Lärm, Literatur, Musik – höflichst „mit der Bitte, Ihnen meine ergebensten Grüße zu Füßen zu legen.“
Hübsches Buch mit Fotos, Faksimiles, Anmerkungen.
Hübsch wie immer: Die Insel-Bücherei begann im Jahr 1912 mit Rilkes „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets “. Prousts „Briefe an seine Nachbarin“ ist Band 1500 der Reihe.
Marcel Proust: „Briefe an seine Nachbarin“
Übersetzt von Bernd Schwibs.
Essay von
Andreas Maier.
Insel Verlag.
117 Seiten.
14,40 Euro
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
Das Proust-ABC
Zum Navigieren durch Leben und Werk. Von A wie Frau Albaret, die letzte Haushälterin, bis Z wie Zimmer: Proust zog sich schon als Kind gern in die Einsamkeit abgedunkelter Zimmer zurück.
Von B wie Bäume, die bei ihm einen Gegenpol zum Schmerz darstellen, bis V wie Venedig, (auch) Prousts Sehnsuchtsort.
Alexander Kluge, der vielseitige deutsche Intellektuelle, bemerkt im Vorwort, ihm habe immer schon etwas gefehlt bei der Einteilung der Literatur in Epik, Dramatik, Lyrik. Etwas Viertes: Kritik? Kommentare? Gründliche Untersuchungen?
Ulrike Sprengers „Das Proust-ABC“ könnte passen, er hält es für einen Lustgenerator für die Wissbegierigen.
Von Proust zu diesem Alphabet ist es ein einfach zu bewältigender Weg.
Es geht allerdings auch in die andere Richtung, man braucht halt (sozusagen) Bergschuhe. Von W wie Weißdorn ist es dann aber gar nicht mehr so weit bis zum geweckten Interesse an „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, wenn die weiße Hecke verzaubert.
Ulrike
Sprenger:
„Das Proust-ABC“
Vorwort von Alexander Kluge.
Reclam Verlag.
318 Seiten.
20,50 Euro
KURIER-Wertung: ****
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