Je genauer Edgar Selge erzählt, desto fremder wird er sich

Je genauer Edgar Selge erzählt, desto fremder wird er sich
Der Schauspieler hat ins Autobiografische seine Wut und seine Liebe gesteckt: "Hast du uns endlich gefunden"

Regelmäßig kamen in den 1950ern etwa 80 jugendliche Häftlinge ins Esszimmer, Sesseln nahmen sie aus ihren Zellen mit. Dann spielte der Gefängnisdirektor am Klavier Bach und Schumann, er begleitete einen Geiger aus Hamburg. Die Frau des Gefängnisdirektors servierte Brote mit Leberwurst und Apfelsaft, denn das gehört sich so. Am Abend kamen dann Freunde, Akademikerpaare, und das Konzert wurde bei feinerem Essen wiederholt.

Der Gefängnisdirektor übte hart für diese Tage.

Sein kleiner Sohn verfolgte einmal eine Probe durchs Schlüsselloch. Der Gefängnisdirektor übte auch das Verbeugen. Vielleicht wäre er lieber Pianist geworden. Der Sohn ist der Schauspieler Edgar Selge (Foto oben), einer der großen Charakterdarsteller Deutschlands – im Theater und im Film. Mit 73 feiert er sein Romandebüt. Es ist tatsächlich ein Fest. Für Leser. Auch für die Literatur.

Vielleicht kommt bei „Hast du uns endlich gefunden“ gleich Joachim Meyerhoff in den Sinn, mit dem Edgar Selge in Wien „Othello“ und „Faust“ gespielt hat. Für Meyerhoff war die Psychiatrie sein Zuhause. Sein Vater hatte eine Klinik geleitet, und dort lebte die Familie. Seit 2011 („Alle Toten fliegen hoch“) erzählt er mehr oder weniger biografisch aus seinem Leben.

Besser tot

Das ist einer der Unterschiede: Edgar Selge zielt nicht auf Witze ab.

Und der Unterschied zu Andrea Sawatzkis aktuellem Roman "Brunnenstraße" ist: Aber es gibt Humor ... wenn er sich ergibt. Es muss ihn geben, damit man im Dunklen nicht versinkt. Denn Selges Vater war engagiert bei den Häftlingen und geradezu sadistisch beim Sohn. Er schlägt mit dem Rohrstaberl zu. Er erregt sich an ihm. Die Eltern schimpfen noch immer auf die Juden. Wenn Willy Brandt kommt, will Vater sterben: "Lieber tot als rot."

Man merkt, dass in jedem Satz viel Arbeit und Wut und Liebe steckt. Der Text ist sparsam. Er schwingt. An den besten Stellen erinnert er an Texte von Peter Altenberg.

Selge übernimmt mutig die Rolle des Kindes, das erzählt. Das ins Kino flüchtet. Zwischendurch ist der Autor ein alter Mann und sich wundert: „Je genauer ich bin, desto fremder werde ich mir.“

Dann träumt er von der Mutter. Die Mutter sagt: „Wie schön. Hast du uns endlich gefunden.“

 

Edgar Selge:
„Hast du uns endlich gefunden“
Rowohlt Verlag.
304 Seiten.
24,95 Euro

KURIER-Wertung: **** und ein halber Satz

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