Furchterregendes für die Achselhaare

Furchterregendes für die Achselhaare
"Das Lied des Nebelhorns" von Jennifer Lucy Allan: Eine Klanggeschichte der – Musik? Oder ist es Lärm?

Es passiert nicht oft, dass sich Achselhaare aufstellen.

South Shields im Nordosten Englands war dafür der Ort. Am 23. Juni 2013 fand ein Konzert statt: 65 Musiker auf den Klippen. Nur Blechbläser. In der Nordsee antworteten 50 Schiffe mit ihren Signaltönen.

Am Ende brüllte der Star, das alte Nebelhorn vom Leuchtturm am Souter Point.

Es war das Requiem für die gewaltigen Nebelhörner, die keine Elektronik benötigten und mit komprimierter Luft ohre Macht ausüben.

So muss der Tod klingen.

Nicht wenige Zuhörer weinten. Unter ihnen war Jennifer Lucy Allan, britische Musikwissenschaftlerin und BBC-Moderatorin, spezialisiert auf experimentelle Musik. Seither ist sie besessen vom Klang, der solche Reaktionen auszulösen vermag.

„Das Lied des Nebelhorns“ beginnt wie der Roman einer jungen Frau – belächelt, weil sie zehn Jahre lang auf der Suche nach furchterregenden Tönen war.

Ihr Text geht bald über in die Kultur- und Klanggeschichte der Maschine, die es in besten Zeiten mit mehr als 120 Dezibel schaffte, fünf Kilometer aufs Meer hinaus zu schreien. Das gab Seefahrern Orientierung im Nebel. Moderne Schiffe brauchen das nicht mehr. Selbst kleine haben heute Radar.

150 Jahre

Jennifer Lucy Allan schaut sich die paar übrig gebliebenen Nebelhörner mit den riesigen Schalltrichtern in England und San Francisco an, als wären es Vögel, die einer aussterbenden Spezies angehören.

Sie geht zu pensionierten Leuchtturmwärtern, die nicht so angetan waren von der „Bestie“. Viele wurden ihretwegen schwerhörig. Verlorenheit im Meer spürten sie, wie die Matrosen, auch ohne Nebelhorn. Die Männer hatten eher Sehnsucht nach einem sicheren Hafen.

Sie geht aufs Meer. Sie geht in den Nebel. Sie geht zu Sammlern. Sie ist gewissermaßen 150 Jahre seit Erfindung des Nebelhorns unterwegs.

Allans Buch ist intelligent, auch intelligent gebaut, und macht neugierig.

Es ist wie beim Schafkot. Ob er duftet oder stinkt, ist – hat einmal ein Gerichtsgutachter festgestellt – nur eine Frage, ob man es gerne riecht. Ob Nebelhörner Musik sind oder Lärm, ist nicht generell zu beurteilen.

Sicher scheint: Sie sind – Gefühl.

Die letzten sind am Verstummen. Nur noch für Touristen leben sie. Man braucht jemanden, der den Maschinenraum aufsperrt, dann klingt das Nebelhorn am Leuchtturm von Portland Bill, das alle 30 Sekunden ertönt, militärisch und streitlustig.

Jenes am Felsen von Beachy Head klingt leiser und traurig.

Jenes im Dorf Pendeen klingt nörgelnd.

Alles sehr menschlich.

Bild oben: Österreichische Nebelhorn-Version, 1870. Später wurde ein Schalldruck von 140 Dezibel erreicht

Bild unten: Jennifer Lucy Allan

Jennifer
Lucy Allan:

„Das Lied des Nebelhorns“
Übersetzt von Rudolf Mast.
Mareverlag.
304 Seiten.
24,70 Euro

KURIER-Wertung: ****

 

Furchterregendes für die Achselhaare

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