Fabrice Humbert: Ein Familiengeheimnis im KZ Buchenwald

Fabrice Humbert: Ein Familiengeheimnis im KZ Buchenwald
"Der Ursprung der Gewalt" ist eine wahre Geschichte und beginnt während eines Lehrausflugs mit einer Fotografie

Als Fabrice Humbert (Bild oben), Lehrer in einem französisch-deutschen Gymnasium in der Nähe von Paris, mit seiner Klasse im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald war, sah er in einer Vitrine auf einer Fotografie den Lagerarzt Wagner ... und dahinter, aus Baracke IX ins Bild gekommen, einen Insassen, der wie Humberts Vater aussah.

Aber der Vater ist ein 1942-er Jahrgang, und dessen Vater, Humberts Großvater, war nicht verschleppt worden.

Identifiziert

Der Mann auf dem Foto – im Jahr 1941 denunziert und deportiert, 1942 als 27-Jähriger durch den Lagerarzt mit Spritze ermordet – war das Familiengeheimnis.

Fabrice Humbert konnte Häftling Nr. 8007 identifizieren. Er hatte einen Überlebenden von Baracke IX gefunden.

Der Mann auf dem Foto, das darf man hier verraten, war der leibliche, jüdische Großvater. Ein fescher Schneider, der in Humberts verheiratete Großmutter sehr verliebt war.

Aus dieser unglaublichen, wahren Geschichte entstand „Der Ursprung der Gewalt“.

Ein Familienroman, ein Familienthriller geradezu mit mehreren Überraschungen. Im Mittelteil entwickelt er sich zum Buchenwald-Roman ...

Aufseher Martin Sommer mischte Abführmittel ins Essen und ließ den Gefangenen nur einen kleinen Nachttopf. Als er am nächsten Morgen die logische Verschmutzung sah, hatte er den Anlass, um alle im Raum zu erschießen.

... zum Buchenwald-Roman mit großer Authentizität. (Sadist Martin Sommer starb 1988 im Schwarzwald.) Aber weil der Autor kein Zeitzeuge ist, bloß ein Enkelkind, bezeichnet er sein Buch lieber vorsichtig als Roman.

Verspätet

Jorge Semprun, der spanische Schriftsteller, überlebte dieses KZ, wo totgeprügelt, erschossen, vergiftet wurde. Semprun hat Fabrice Humbert fürs Buch umarmt und es dadurch autorisiert.

Nur kurz denkt man an Nobelpreisträger Modiano und dessen Spurensuche.

Aber Humbert ist kein Dichter. Er schreibt eine schleichende Chronik, manchmal essayistisch, fast immer staubtrocken.

Die Wirkung ist (trotzdem?) enorm.

„Der Ursprung der Gewalt“ war in Frankreich und anderen Ländern ein Erfolg. Verfilmt wurde 2016. Die deutsche Übersetzung aber ließ 13 Jahre auf sich warten. Die großen Verlage wagten die Veröffentlichung nicht. Hier wurde mangelndes Interesse befürchtet. Aber das kann unmöglich sein! Es geht ums Erbe.

Fabrice Humbert, der oft aufbrausend ist, arbeitet heraus: „Ich bin der Erbe einer immensen Gewalt, die sich durch meine Träume zieht. Ich bin mein Großvater, der seinen Henkern ausgeliefert war.“

Es sind nur elf Kilometer von Goethes Weimar auf den Ettersberg, wo Häftlinge an den Armen auf Bäume gehängt wurden, bis die Sehnen in den Schultern rissen.

Was bloß zeigt, dass Kultur nicht vor Barbarei schützt.


Fabrice Humbert: „Der Ursprung der Gewalt“
Übersetzt von
Claudia
Marquardt.
Elster Verlag.
 368 Seiten.
24,95 Euro

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

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