"Erstaunen" von Richard Powers: Die Sorgen der Kinder sind offensichtlich

"Erstaunen" von Richard Powers: Die Sorgen der Kinder sind offensichtlich
Der preisgekrönte amerikanische Schriftsteller will mehr als Jonathan Franzen

(Starker Stoff. Nur die Allerhärtesten werden unberührt bleiben.)

 

Der Mensch sieht keine Bäume. Er sieht, sollte er kurz vom Handy aufschauen, Nüsse, Obst, er sieht die Äste, aber nur dann, wenn sie aufs Auto krachen.

Robbie sieht Bäume. Der Neunjährige macht sich große Sorgen, dass es Tieren und Pflanzen nicht gut geht und sie aussterben. Menschen machen ihm Angst.

Wenn er sieht, wie Hühner gehalten werden, sodass sie einander tothacken, hat er nächtliche Schreiattacken.

Empathie

Ärzte diagnostizieren Asperger oder ADHS oder Zwangsstörung. Besser: Robbie leidet an der Welt.

Er ist hochintelligent, in der Schule werden nur seine Aggressionen registriert.

Stellt jemand fest: „Du bist etwas Besonderes.“

... antwortet der Neunjährige: „Jeder ist etwas Besonderes.“

Er und sein Vater Theo: Sie sind nichts. Sie sind alles. Die Mutter (die Ehefrau) starb bei einem Autounfall, als sie auf eisiger Straße einem Opossum auswich. Alyssa war Tierschützerin.

Dass das Leben Robbie zerstören wird, ist im Roman „Erstaunen“ abzusehen.

Es genügt dem Amerikaner Richard Powers (= National Book Award 2006. Pulitzer Prize 2019) nicht, nie genügt es ihm, eine Familiengeschichte wie Jonathan Franzen zu erzählen.

Powers will etwas erreichen. Deshalb neigt er zum Predigen, was ihm mitunter übel genommen wird.

Aber diesmal hatte er sowieso keine Zeit dafür. Er war – mit Erfolg – damit beschäftigt, Empathie mit Robbie und Theo zu erzeugen, um sie besser zu verstehen.

Der Vater, Mitte 40, ist nahezu rund um die Uhr damit beschäftigt, den Buben glücklich zu machen. Theo ist Astrobiologe, er forscht nach Leben im All, vernachlässigt die Karriere und geht lieber mit seinem Sohn auf Kopfreise, sie spazieren auf menschenleeren Planeten.

Thunberg

Zuletzt nimmt er ihn aus der Schule und unterrichtet ihn selbst. Eine experimentelle neurologische Therapie bringt Robbie mit den Gedanken seiner Mutter zusammen und macht ihn ruhiger.

Selbstverständlich denkt man beim Lesen an die Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg. Sie spielt, fiktionalisiert, im Roman eine Nebenrolle. Über Thunberg sagt Richard Powers: „Es geht nicht darum, ein Kind mit blonden Zöpfen zu verehren, sondern anders über die Zukunft zu denken.“

Powers will, dass sich Menschen nicht fürs Größte halten; dass sie Offensichtliches sehen. So war es schon im preisgekrönten Roman „Die Wurzeln des Lebens“.

„Erstaunen“ ist irgendwie die Fortsetzung, bei der man nachdenken soll:

Wenn Erwachsene die Ängste der Jungen, Umwelt und Klima betreffend, ernst nehmen – würden sie sich dann anders verhalten?

Der persönliche Lieblingssatz steht auf Seite 116: „Man fragt sich, wie es überhaupt irgendjemand bis ins Erwachsenenalter schafft.“


Richard Powers:
„Erstaunen“
Übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié.
S. Fischer Verlag.
320 Seiten.
24,95 Euro

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

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