Aber weiters ist es möglich, Ferrante großartig zu finden.
Denn der neu aufgelegte Roman „Tage des Verlassenwerdens“ (2002) hat jene Kraft, die später abhanden kam. Er hat das Rätselhafte, die der spätere Zyklus mit Lila und Lenù nicht zuließ:
Je nach Lesart gibt er verschiedene Bilder frei, bei Frauen und Männern, bei der Liebe und dem Hass, bei der Hassliebe, beim Sex, beim Tod.
Die Erklärung, warum Elena Ferrante langweilt und begeistert, könnte sein, dass es mehrere Elena Ferrante gibt.
Eine Ferrante-Fabrik, die ihre Produkion ändern musste: Freunde mit einem Wechsel in der Produktion (wegen eines Todesfalls).
Das hält der Schweizer Kulturjournalist Nicola Bardola für wahrscheinlich. Er ist ein großer Ferrante-Kenner, jedes Rufzeichen im Werk der anonymen Italienerin kennt er.
Na gut, sie macht selten welche, sie mag Rufzeichen nämlich nicht.
Im Buch „Elena Ferrante – meine geniale Autorin“ legt Bardola ein Puzzle auf, in dem die neapolitanische Schreibwerkstatt gut sichtbar wird.
Demnach wäre „Tage des Verlassenwerdens“ von einer Elena Ferrante geschrieben worden, die sechs Jahre nach Erstveröffentlichung im Meer ertrank.
Es ist Olgas Porträt. Olga ist 38 und zweifache Mutter. Ihr Ehemann Mario ist 40. Er verlässt Olga, wie sich herausstellt wegen seiner 20-jährigen früheren Nachhilfeschülerin.
Olga ist Neapolitanerin, und lebt in Turin. Mit Schrecken erinnert sie sich an eine verlassene Frau, die voller Liebe war und sich selbst verlor, als sie stehengelassen wurde. Sogar ihren Namen verlor sie und war nur noch die poverella, die Arme.
So will Olga nicht enden. Auch nicht wie die gebrochenen Frauen in den Erzählungen Simone de Beauvoirs. Es wird ein Kampf, ein Wüten, sie vernachlässigt ihre Kinder, prügelt den Ehemann, fantasiert, schläft aus Rache mit dem Nachbarn, der eine unangenehm lange Zunge hat, dafür einen angenehm längeren Penis als Olgas Ex.
Ein intensiver Text, in dem noch dazu Olgas Hund vergiftet wird. Von ihr?
Als Stellvertreter?
Elena Ferrante gibt eMail–Interviews und verriet, sie habe ursprünglich nur über den Tod eines Haustiers schreiben wollen. Die betrogene Ehefrau sei irgendwie dazugekommen.
Foto oben: Ohne Neapel geht gar nichts in den Romanen Elena Ferrantes
Elena
Ferrante:
„Tage des Verlassenwerdens“
Übersetzt von
Anja Nattefort.
Suhrkamp Verlag.
262 Seiten.
22,70 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern
Nicola
Bardola:
„Elena Ferrante – meine geniale
Autorin“
Reclam Verlag.
311 Seiten.
24,70 Euro.
KURIER-Wertung: ****
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