Die weiße Schrift des Sibirischen Tigers lesen

Die weiße Schrift des Sibirischen Tigers lesen
Die Kanadierin Polly Clark schrieb ein leidenschaftliches Plädoyer für den Artenschutz

Russlands Präsident Putin nimmt sich höchstpersönlich der Sibirischen Tiger an, damit sie nicht aussterben.

Es gibt ein Reservat. Die Chinesen sollen Viagra nehmen und nicht den pulverisierten Penis der Katzen.

Denn Putin will ein „Tigerpräsident“ sein.

Und die Bonobos? Die Cousins der etwas größeren, rauflustigen Schimpansen; ebenfalls gefährdet. Friedliebende Tiere, keine Angeberkämpfe, keine Konkurrenz. Warum will niemand ein „Bonobospräsident“ sein? Dass sie den ganzen Tag Sex machen, kann wohl nicht der Grund sein.

Aber dass sie kein herzeigbares Machtsymbol sind.

Kalte Schönheit

Sibirische Tiger und Bononos: Beide kommen in Polly Clarks Roman vor, obwohl er nur „Tiger“ heißt. Vier Erzählungen sind es, die gut zusammenfinden.

Die Territorien kollidieren im Käfig genauso wie in der Taiga.

Ein Buch als leidenschaftliches Plädoyer für den Artenschutz.

Ein Buch für Menschen wie jene im Osten Russlands, die sich als nichts Besonderes sehen, sondern bloß als ein Lebewesen unter vielen, das mit der Umwelt und niemals gegen sie arbeitet; nur so können sie überleben.

Die Kanadierin, die abwechselnd in Schottland und auf einem Hausboot in London lebt, hat solche Menschen kennengelernt: Polly Clark (Bild oben) war in Sibirien und studierte dort die „weiße Schrift“ – die Tierspuren im Schnee, die eine Welt offenbaren.

Dieses Wissen merkt man dem Roman an.

So nah ist man einem Tiger noch nicht gekommen.

Das ist spannend, und irgendwie tut diese kalte Schönheit gut, wenn man lesend nach Sibirien fliegt, minus 35 Grad, wo am Ende junge Tiger ausgewildert werden.

Clark, die in jungen Jahren im Zoo von Edinburgh gearbeitet hat, gibt der Natur eine Sprache, die nichts vermenschlicht. Selbst dann nicht, wenn einem Tiger auf Nahrungssuche beim Denken zugehört werden kann.

Schon eher wird „vertigert“, aus den Charakteren im Buch wird das Wilde, wird die Kraft und die Unverletzbarkeit geholt.

Der Bogen ist mithilfe einer englischen Tierpflegerin gespannt: Frieda war Opfer eines ungeklärten Attentats mit einem Hammer, und schon deshalb fühlt sie sich im Gehege der Bonobos am wohlsten.

Als aber ein Sibirisches Tigerweibchen in den Zoo kommt, wird sie von der Wildheit angezogen.

Nein, man darf sich im Leben nie wie ein Beutetier verhalten.

Es fließt Blut.

Kein Satz ist zu viel. Polly Clark wurde als Lyrikerin bekannt und preisgekrönt, da muss man mit einfachen Worten perfekt ein Ziel verfolgen. Als Forscherin, Tier und Mensch inspizierend, gibt es bei ihr ebenfalls kein leeres Gerede.

Wäre auch ganz falsch, angesichts eines Tigers dummes Zeug zu faseln.

Sonst fährt er seine Krallen aus.

 

Polly Clark:
„Tiger“
Übersetzt von Ursula C. Sturm.
Eisele Verlag.
432 Seiten.
22,90 Euro

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

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