Deutscher Buchpreis 2021: Viel Geduld ist notwendig

Deutscher Buchpreis 2021: Viel Geduld ist notwendig
Unter den sechs Finalisten sind eine Vorarlbergerin, ein Tiroler, ein Schweizer und drei Deutsche. Der KURIER stellt die Bücher kurz vor

Wer gewinnt den Deutschen Buchpreis? Montag, 18. Oktober 2021, wird es in Frankfurt bekannt gegeben. Monika Helfer aus Vorarlberg und Norbert Gstrein aus Tirol sind unter den sechs Finalisten. Außer bei Monika Helfer ist sehr viel Geduld beim Lesen notwendig. Es gibt heuer keinen Favoriten ... außer im KURIER.

 

 

Monika Helfer: „Vati“. Hanser Verlag, 20,60 Euro

Die ersten Sätze: „Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern.“

Die Vorarlbergerin erinnert sich besser, wenn sie müde ist und noch nicht schläft, aber träumt. Dann beschwört sie ihre Familie herauf, zuerst in „Die Bagage“ über ihre Großeltern im Bregenzerwald, dann – in der zu schnell darauf folgenden Fortsetzung – ihren Vater: einen Mann, der Freude an Buchstaben hatte und Bücher streichelte. Das dritte Buch über ihre Familie – über ihren Bruder diesmal – heißt „Löwenherz“ und erscheint bereits im kommenden Jänner.

KURIER-Wertung: ****

Thomas Kunst: „Zandschower Klinken“ Suhrkamp Verlag, 22,90 Euro

Erster Satz: „Claasen geht den Weg zu seinem Auto zurück, das er am Anfang der Verlaatstraße in einer Seitengasse abgestellt hat.“

Willkommen im ostdeutschen Ort Zandschow. Der Aussteiger-Roman ist nur mit Mühe zu lesen, aber witzig und voll wilder rhythmischer Poesie: Die Leute im Dorf – arm, obwohl sie (man staune) in der Früh aufstehen und zur Arbeit marschieren – haben eine Gegenwelt gebaut. Mit Plastikflamingos im Löschwasserteich, der für sie der Indische Ozean ist. Auf einer künstlichen Insel wird afrikanisches Bier getrunken. Getränke-Wolf hat’s organisiert. Thomas Kunst aus Leipzig hat’s extrem erzählt.

KURIER-Wertung: ****

Norbert Gstrein: „Der zweite Jakob“ Hanser Verlag, 25,70 Euro

Erster Satz (gekürzt): „Natürlich will niemand sechzig werden, jedenfalls nicht als Jubilar, und natürlich will niemand, der bei Sinnen ist, ein Fest, um das zu feiern …“

Das Leben „hinkriegen“, möglichst gründlich sollte man es machen und darüber nachdenken, was überhaupt „gründlich“ bedeutet, sagt der in Hamburg lebende Tiroler Gstrein, in dessen Büchern nichts sicher ist. Die Tochter fragt den Vater, einen alternden Filmschauspieler: Was ist das Schlimmste, das du jemals getan hast? So gelangt man nach Mexiko, wo manchmal Amerikaner hinfahren, wenn sie eine Frau ermorden wollen.

KURIER-Wertung: *****

Mithu Sanyal: „Identitti“ Hanser Verlag, 22,90 Euro

Die ersten Sätze im Roman: „Das letzte Mal, dass ich mit dem Teufel sprach, war er nackt, sichtlich sexuell erregt und eine Frau. So viel zu sozialen Gewissheiten.“

Eine indische Universitätsprofessorin gibt sich als Schwarze aus, sie wird als Weiße geoutet, und das sorgt für Entrüstung. Ob es einen Unterschied macht, ob man grün oder violett gestreift ist: Die Düsseldorferin Mithu Sanyal mag Literatur nur, wenn sie Humor hat. Auch wenn es um Identität und Zusammengehörigkeit geht.

KURIER-Wertung: ****

DAS FOTO OBEN ZEIGT MITHU SANYAL. SIE IST EINE DEUTSCHE SCHRIFTSTELLERIN UND KULTURWISSENSCHATERIN MIT SCHWERPUNKT RASSISMUS, IDENTITÄTSPOLITIK, FEMINISMUS.

 

Antje Rávik Strubel: „Blaue Frau“ Verlag S. Fischer, 24,95 Euro

Erster Satz: „Jede Nacht sind die Autos zu hören.“

So klar bleibt es allerdings nicht. „Blaue Frau“ ist das größte Projekt unter den Finalisten – überkonstruiert (damit’s nach noch mehr aussieht?): Die EU mit den Mächtigen und Ohnmächtigen. Das Leben, auf DEN Schicksalsmoment wartend. Eine junge Tschechin, in Berlin vergewaltigt, fordert in Helsinki Menschenrechte ein.

KURIER-Wertung: ****

Christian Kracht: „Eurotrash“ Kiepenheuer & Witsch, 22,90 Euro

Die ersten Sätze: „Also, ich mußte wieder auf ein paar Tage nach Zürich. Meine Mutter wollte mich dringend sprechen.“

Eurotrash = Mist aus Europa. Kracht ist demnach selbstironisch, wenn er erzählt, wie er mit seiner reichen, senilen Mutter durch die Schweiz reist und sich mit seiner Familie samt Nazigroßeltern beschäftigt. Eine neue, interessante Form des Erzählens der eigenen Familiengeschichte (und des Erzählens vom Erzählen). Aber ist es denn wirklich die eigene? Die Mutter bittet den Sohn: „Erzähl mir doch etwas.“ – „Wahrheit oder Fiktion?“ – „Das ist mir egal. Entscheide Du.“

KURIER-Wertung: ****

 

DEUTSCHER BUCHPREIS:
197 Romane von 125 Verlagen wurden heuer eingereicht. Immer im September stehen die sechs Finalisten für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres fest.
Zuletzt gewann „Annette, ein Heldinnenepos“ von Anne Weber (2020) und „Herkunft“ von Saša Stanišić (2019).

Für Gewinnerin / Gewinner gibt es 25.000 Euro Preisgeld. Die übrigen fünf Finalisten bekommen je 2.500 Euro.

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