Denn später werden die alten Kinder vor dem Fernsehapparat sitzen. Vermutlich ist der Fernsehapparat dann nicht mit Holzimitat verkleidet, und es läuft kein Kriegsfilm.
Und vermutlich fragt dann niemand mehr: Was machen wir heute? Weil’s klar ist: Man holt ein Bier aus dem Kühlschrank.
Oder geht zu den Gelbwesten auf die Straßen demonstrieren.
„Wie später ihre Kinder“ ist gewissermaßen die Vorgeschichte der Proteste, die es gibt, weil die Politik die Lebensrealität der Menschen nicht mehr kennt. Weil der sozialen Ungerechtigkeit wenig entgegengesetzt wird.
Das sind die spektakulären Folgen. Der Roman hingegen ist unspektakulär:
Die 1990er Jahre in einer Kleinstadt an der Grenze zum reichen Luxemburg.
Eine Welt ist zu Ende gegangen, die Stahlindustrie hat alle entlassen müssen, die Kohleindustrie genauso, die Hochöfen dienen nur noch als laut schepperndes Ziel, wenn Jugendliche mit ihren Stahlkugelschleudern darauf schießen.
Und die neue Welt?
„Egal, wir machen irgendwas.“
Nicolas Mathieu - Foto oben - begleitet mit großer Sympathie Jugendliche in der französischen Provinz über vier Sommer – beginnend, wenn sie 14 sind. Wie sie träumen, wie sie sich verlieben, wie sie die langweiligen Ferien verbringen und Mopeds stehlen.
Wie sie aus diesem Leben, aus dieser Stadt, aus diesem Teufelskreislauf fliehen wollen, es auch irgendwie schaffen, für kurze Zeit, aber dann sind sie wieder da.
Mathieu hat den richtigen Ton drauf, wenn er die Jugend untereinander reden lässt. Bei Anthony, bildungsfern, Vater Alkoholiker. Bei Hacine, bildungsfern und aus Marokko stammend. Bei Steph, der elitären Tochter des Bürgermeisters. Wenn sie reden, ist alles echt, sodass man ihre Gefühle versteht.
Wenn niemand redet und Mathieu als Erzähler gefordert ist, irritiert er mitunter. Etwa, wenn er glaubt, den Jargon übernehmen zu müssen: Da plaudert eine Frau mit einem Mann, und dann plötzlich „schmeißt sie sich weg“; und das heißt in diesem Fall bloß:
Sie lacht.
Oder wenn er, solche Poesie passiert aber selten, schreibt: Die Plattenbauten beobachten eine Prügelszene auf der Straße – und nicht nur das, sie beobachten sogar „mit plastischer Gleichgültigkeit“. Das lässt leider auch Nichtplattenbauten kalt.
Nicolas
Mathieu: „Wie später ihre
Kinder“
Übersetzt von
Lena Müller u. André Hansen. Hanser Berlin.
448 Seiten.
24,70 Euro.
KURIER-Wertung: ****
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