Es war 1950. Es war im Sommer. Es war ein Sonntag. Das wird die heute 82-Jährige nie vergessen.
Annie war zehn und spielte in der Rue de L’École in Lillebonne Fangen, ihre Mutter unterhielt sich mit einer anderen Frau. Annie schnappte Satzfetzen auf und vergaß aufs Spielen.
Denn es gab eine Schwester. Sie starb, sechs Jahre alt, 1938 an Diphtherie, kurz bevor die Impfung in Frankreich Pflicht wurde.
Mutter sagte, dieses Kind sei viel lieber gewesen als „die da“. Damit war Annie gemeint, die aufsässige Nervensäge (aber geliebt wurde sie sehr wohl).
Sonst wurde in der Familie nie über die Tote gesprochen. Annie hat nie nach ihr gefragt; und wundert sich über ihr Schweigen damals.
„Außerhalb der Sprache der Gefühle“ hat sie darüber geschrieben. Wieder eine ihrer archäologischen Grabungen. „Das andere Mädchen“ erschien in Frankreich bereits 2011.
Es ist ein Buch, um die Dinge zu Ende zu bringen, denn sonst „sind sie nur gelebt worden.“
Es ist ein Buch, um festzustellen: Es hätte kein zweites Kind gegeben, wäre die Schwester am Leben geblieben. Es hätte „sie“ nicht gegeben, denn für ein zweites Kind hätten die Eltern nicht genügend Geld gehabt.
Annie Ernaux ist auf die Welt gekommen, weil die Schwester gestorben ist. Sie hat die Schwester ersetzt. Damit sie schreiben konnte, musste die Schwester sterben. Das muss sie erst einmal verdauen ...
„Das andere Mädchen“ ist in Form eines Briefes an die Abwesende geschrieben. Es ist nicht als Auferstehung gedacht: Ernaux will ihr zwar nah sein und geht regelmäßig ans Grab, sie sucht Spuren – sechs Fotografien gibt es. Aber sie hält sie abwesend – sie erwähnt den Namen selten, im Buch ein einziges Mal: Ginette.
Angeblich waren Ginettes letzte Worte: Bald bin ich im Himmel bei der Jungfrau Maria und dem Jesukind.
Annie Ernaux ärgert sich heute ein wenig, dass die Mutter ihr einen solchen Unsinn beigebracht hat.
Annie Ernaux: „Das andere
Mädchen“
Übersetzt von Sonja Finck.
Bibliothek Suhrkamp.
80 Seiten.
19 Euro
KURIER-Wertung: ****
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