Arundhati Roy: Meine liebe Rabenmutter
Jedem kann alles passieren. Am besten ist man darauf vorbereitet. Arundhati Roy ist die berühmteste Schriftstellerin Indiens. Sie ist gelernte Architektin, Drehbuchautorin, politische Aktivistin. Engagiert sich für Umweltschutz, gegen das Kastensystem und die Diskriminierung der Muslime. Wegen ihres Engagements kam sie sogar ins Gefängnis. Wäre sie nicht eine international berühmte, mit dem Booker Preis ausgezeichnete Autorin, wäre sie dort wohl nicht mehr rausgekommen.
Roy wurde schon als Kind gut auf das Leben vorbereitet. Dass jedem jederzeit alles passieren kann, ließ sie auch die Protagonistin ihres halbautobiografischen Weltbestsellers „Der Gott der kleinen Dinge“ wissen. Der Satz ist nun eine Art Motto ihrer Romanbiografie „Meine Zuflucht und mein Sturm“.
Wobei man schon bei dieser Einordnung daneben liegt. Der Tod ihrer Mutter 2022 hat Arundhati Roy zum Rückblick auf das eigene Leben bewegt. Doch eigentlich geht es in diesem Erinnerungsbuch mindestens so sehr um Arundhati Roys Mutter. Um Mary Roy, Frauenrechtlerin, Schulgründerin, Ermutigerin und Tyrannin. Sie ließ ihre Tochter gelegentlich allein auf der Staße stehen, beschimpfte sie wüst und erschoss den geliebten Schäferhund. Von ihren Kindern wollte sie wie von allen anderen Schülern ihrer Schule nur „Mrs Roy“ genannt werden. Niemand sollte bevorzugt oder benachteiligt werden, der Kampf gegen Ungerechtigkeit jeglicher Art war ihr Lebensmotto. Dass ihre eigenen Kinder keine Mutter im herkömmlichen Sinn hatten, war der Preis, der eben zu bezahlen war. Sie war ihrer Tochter „Zuflucht“ und „Sturm“. Ihr ist dieses Buch gewidmet: „Für Mary Roy. Die nie sagte, lass es sein.“
Drei Stück Torte
Man liest darin von mütterlichen Gewaltausbrüchen, aber auch von deren unerschütterlicher Kraft und Hingabe zu ihren Prinzipien. Was die Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy ausmacht, hat sie zweifelsohne von der Mutter geerbt. Eisernen Willen und Widerstandskraft, bis zu letzten Minute. Mary Roy, die hier als „Die Gangsterin“ vorgestellt wird, wählt den Zeitpunkt, zu sterben, selbst. Zuvor verschlingt sie noch drei Stück Torte. Sie ist gefräßig und unbändig, selbst angesichts ihrer neunzig Jahre und ihrer schweren Lungenkrankheit. Und auch wer künstlich beamtet wird, braucht eine schicke Dior-Sonnenbrille auf der Nase.
Dieses Buch ist ebenso Mutterbuch wie Autobiografie; es ist ein wunderschönes Stück Literatur und eine persönliche Analyse indischer Zeitgeschichte. Wer die Autorin von „Der Gott der kleinen Dinge“ liebt, wird hier erfahren, dass das Wesen, das sie einst zu diesem Titel inspirierte, ein Eichhörnchen war, steter Begleiter in schwierigen Kindertagen.
Zugleich ist Arundhati Roy selbstverständlich eine immer loyale, manchmal auch etwas unkritische Verteidigerin des sogenannten globalen Südens und entschiedene Kritikerin der USA. Nach den Anschlägen vom 11. September etwa schreibt sie, nun habe der Krieg gegen den Terror, „was immer das sein soll“, begonnen. Das fügt sich nahtlos in ihr späteres Pro-Palästinenser-Engagement. Der „Westen“ ist immer der Feind.
Man mag Roy nicht in all ihren politischen Ansichten recht geben. Dessen ungeachtet sind ihr Mut und ihr Engagement erstaunlich. Von ihrer Brillanz als Erzählerin ganz zu schweigen. Barbara Beer
Arundhati Roy:
„Meine Zuflucht
und mein Sturm“
Übersetzt von
Anette Grube
S. Fischer.
368 S. 27,95€