Arundhati Roy: Der Dotter ist nicht das Gelbe vom Ei

Ihr neuer Roman nach politisch aktiven 20 Jahren handelt – von allem.

"Das Ministerium des Äußersten Glücks" ist ein Mosaik, das viel von Indien zeigt, und auf den allerersten bunten Teilchen zum Zusammensetzen sind Weißrückengeier, die vom Himmel fallen, weil in den toten Kühen, aus denen sie Fleisch reißen dürfen, Diclofenac ist, zur Steigerung der Milchproduktion einerseits, andererseits ist es halt Gift.

Und eine alte Frau tritt auf. Sie lebt auf einem Friedhof in Delhi, sie richtet zwischen den Gräbern Zimmer ein, Arme können bei ihr billig wohnen. Manchmal kommt ein blinder Imam auf ein Streitgespräch über die Religion: "Leute wie du, wo werden sie begraben?" – "Du bist der Imam, nicht ich. Glaubst du nicht, dass der Allessehende, der uns auf diese Erde gestellt hat, nicht auch angemessene Vorkehrungen getroffen hat, um uns wieder von hier fortzubringen?"

Sie ist ein Zwitterwesen, sie ist nicht "Sie" oder "Er", sondern UND. UND auch ein Baum und noch mehr:

"Ich bin eine Versammlung!"

Allein für diesen Ausruf muss man das neue Buch von Arundhati Roy lieben.

Bei anderen Sätzen mit "zwinkernden Blechsärgen" muss man allerdings fragen, ob bei ihr alles in Ordnung ist ...

Ein Buch ist ein Haus

Arundhati Roy wird von indischen Medien gern als "Stimme der Sprachlosen" bezeichnet. Das macht sie wild, denn:

"Es gibt keine Sprachlosen. Es gibt nur diejenigen, die absichtlich zum Schweigen gebracht werden. Oder die absichtlich überhört werden."

Diese Frau hat viele Kämpfe.

Und hat deshalb 20 Jahre keinen Roman geschrieben. "Der Gott der kleinen Dinge", auch ein Mosaik, hatte sie weltberühmt gemacht, das US-Magazin Time reiht die ehemalige Architekturstudentin und Aerobic-Trainerin unter die 100 einflussreichsten Menschen. Es folgte eine politisch aktive Zeit: für die Armen, gegen Kapitalismus, gegen Globalisierung, gegen das Kastenwesen – und damit gegen Gandhi, der das System für "die Rettung Indiens" hielt, gegen die hindu-nationalistische Partei des Ministerpräsidenten usw.

Ihre Wut hat sie im eben auf Deutsch veröffentlichten Roman nicht versteckt.

"Alles" soll in ihm vorkommen, vor allem das schreckliche, das schrecklich ungerechte Indien. Sie musste scheitern. Schön scheitern.

Indien ist für die 55-Jährige wie ein weich gekochtes Ei: "Seine langweilige Oberfläche verbirgt zuinnerst einen Dotter von ungeheuerlicher Gewalttätigkeit."

Wieso ist Eiweiß langweilig? Dieser Vergleich ist nicht unbedingt das Gelbe vom Ei.

Ein Buch ist für sie wie ein Gebäude oder überhaupt "wie eine ganze Stadt, durch die ich fahre." Sie geht durch Türen, sie schaut durch Fenster. Sie will an niemandem einfach vorübergehen. Hier eine Zigarette mit den Bewohnern rauchen, dort mit ihnen plaudern: "Hey man, what’s going on? How is it? Ich denke, so funktioniert das Buch."

So funktioniert es große Strecken, aber es funktioniert nicht, wenn’s zu chaotisch wird und wenn sich der Roman nicht entscheiden will, ob er vielleicht doch politischer Unterricht ist – Beispiel: der Konflikt um Kaschmir. Der Kaschmir-Teil hätte ein eigenes Buch werden sollen. Er macht "Das Ministerium des Äußersten Glücks" nicht reicher.

Roys Einwand: ... aber alles gehört zusammen; und es sei eigentlich völlig egal, ob man einen Roman oder einen politischen Essay schreibe – es gehe immer darum, der Welt einen Sinn zu geben.

Außerdem sei alles politisch. (In einem Interview in England hat sie ergänzt: sogar die Fakten zur Sexualleben der Goldfische ...)

Arundhati Roy: „Das
Ministerium des Äußersten Glücks“
Übersetzt von Anette Grube.
Verlag S. Fischer .
556 Seiten.
24,70 Euro.

KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern

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