Über die Flucht von Sigmund Freud am 4. Juni 1938 nach London weiß man genau Bescheid: Um 14.30 Uhr fuhr der herz- wie krebskranke Psychoanalytiker zusammen mit seiner Frau Martha, Tochter Anna, 20 Koffern und dem Chow-Chow Lün, begleitet auch von der Ärztin Josefine Stross, mit zwei Taxis von der Berggasse 19 zum Westbahnhof. Dort wurde er im Krankensessel auf den Perron getragen und in sein Schlafwagenabteil gehoben.
Der Orient Express fuhr um 15.14 Uhr ab, um 3.45 Uhr passierte er die deutsch-französische Grenze in Kehl – „Nach der Rheinbrücke waren wir frei!“, so Freud erleichtert – und traf am 5. Juni um 10.12 Uhr im Gare de l’Est ein. Den Tag verbrachte die Familie, „in Liebe eingehüllt“, bei der Psychoanalytikerin Marie Bonaparte, die ihr Leben lang unter Frigidität litt.
Lün in Quarantäne
Um 21.50 Uhr ging es vom Gare du Nord mit der „Night Ferry“ weiter. Die Waggons rollten in Dunkerque auf die Fähre, um 6.15 Uhr erreichte man Dover. Ernest Jones, Gründer der British Psychoanalytic Society und seit 1908 mit Freud befreundet, hatte erwirkt, dass die Koffer nicht kontrolliert wurden; Lün aber musste sechs Monate in Quarantäne. Um 9.10 Uhr kamen die Freuds in der Victoria Station an. Die neue Adresse lautete: 39 Elsworthy Road.
Ankunft am 5. Juni 1938 um 10.12 Uhr am Gare de l’Est: Anna Freud und ihr betagter Vater
Nicht so genau Bescheid weiß man allerdings über die Vorgeschichte. Immer wieder werden die Ereignisse nach dem „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich am 13. März 1938 verantwortlich gemacht. Am 15. März – an jenem Tag brüllte Hitler auf dem Heldenplatz – wollte die SA in der Berggasse Kunst beschlagnahmen, eine Woche später die Gestapo Freud zum Verhör abholen. Mit Verweis auf die Gebrechlichkeit des Vaters ließ sich Anna verhören. Und so sei, liest man mitunter, „schon Anfang April“ die Flucht festgestanden.
Aber das stimmt nicht. Denn Freud hatte die Entwicklung in Deutschland seit der Machtübergabe an Hitler im Jänner 1933 genau beobachtet. Bei der Bücherverbrennung im Mai jenes Jahres waren auch seine Schriften der Flamme übergeben worden, die dortigen Psychoanalytiker mussten das Land verlassen. Freud hielt fest, „dass Judenverfolgung und Einschränkung der geistigen Freiheit die einzigen Punkte des Hitler-Programms sind, die sich durchführen lassen. Alles Übrige ist ja Phrase und Utopie.“ Dass es im austrofaschistischen Österreich so weit kommen könnte, bezweifelte er. Und blieb. Aber am 12. März marschierten die deutschen Truppen ein.
Den Mitgliedern der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung war bewusst, was folgen würde. Denn sie waren zum überwiegenden Teil Juden. So fand bereits am 13. März im Wartezimmer von Freuds Praxis eine Vorstandssitzung unter Annas Leitung statt. Man fasste den Beschluss, dass alle Mitglieder ehestmöglich das Land verlassen sollen. Anna unterrichtete den bald 82-jährigen Vater von der kollektiven Flucht.
Eine „ominöse“ Liste
Von London aus orchestrierte Jones die Aktion: Wohnungen und Visa mussten organisiert, Wertgegenstände ins Ausland gebracht, Gelder gesammelt und Bürgschaften aufgestellt, werden. Bis zum Frühjahr 1939 konnten alle bedrohten Wiener Psychoanalytiker, 38 an der Zahl, sowie rund 30 Kandidaten der Vereinigung die Stadt verlassen. Vergleichsweise wenige gerieten in die Fänge der Nazis und wurden ermordet. Viele ließen sich in den USA nieder. Und keiner kehrte nach 1945 zurück nach Wien.
Über diesen Braindrain informiert die Sonderausstellung „Organisierte Flucht – Weiterleben im Exil“ des Sigmund Freud Museums. Den „Ausgangs- und Angelpunkt“ bildet eine 20-seitige Liste, die Ernest Jones mit Anna Freud ab dem Sommer 1938 führte. Sie gibt z. B. detailliert Auskunft über die Aufenthaltsorte der Geflüchteten.
Bei der Pressekonferenz zur Schau erzählte der Psychoanalytiker Thomas Aichhorn, dass er diese „ominöse“ Liste irgendwann in London gefunden habe. Wann genau? Das muss er verdrängt haben. Denn er könne sich nicht erinnern. Vor Jahrzehnten jedenfalls. Und er machte auch nichts aus seinem Fund.
Erst vor ein paar Jahren gelangte er zur Erkenntnis, dass die Aufarbeitung ein zu großes Projekt für ihn allein sei. Die Arbeitsgruppe zur Geschichte der Psychoanalyse nahm sich nun der Liste an – und erzählt diverse Fluchtgeschichten anhand von Faksimiles und Fotografien. Originalobjekte gibt es nur vereinzelt, in einer Vitrine aber liegt der Terminkalender von August Aichhorn aus 1938. Aufgeschlagen ist absurderweise Ende Jänner. Da war Flucht noch kein Thema. Auf Drängen des KURIER wurde nachgeschaut, was der Großvater von Thomas Aichhorn Mitte März eingetragen hatte. Die Antwort ist klar: nichts.
Die Sonderausstellung ist aufgrund des Lockdowns derzeit (zumindest bis 12. Dezember 2021) geschlossen. Sie soll bis 30. April zu sehen sein. Da es ohnedies kaum Exponate zu sehen gibt, kann man auch mit dem onlinegestellten Material das Auslangen finden: www.freud-museum.at
Ein Besuch des erweiterten und neu eingerichteten Museums ist aber auf jeden Fall empfehlenswert!
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