Es geht um eine Epoche des Übergangs: Politische Einflussbereiche wurden im frühen 16. Jahrhundert in Mitteleuropa neu aufgeteilt, ein neues Bildungsideal – der Humanismus – bahnte sich unter Eliten den Weg. Künstler entdeckten ein neues Bild des Menschen und der Natur, definierten sich aber auch selbst neu.
So weit die Schulbuch-Information. Was die Schau im Oberen Belvedere aber jenseits des puren Bildungsauftrags sehenswert macht, ist die grandiose Formenvielfalt sowie die fast körperlich spürbare Intensität, die die Kunst jener Zeit zustande bringt. Da bekommen Gewandfalten einer Madonnenstatue eine solche Dynamik, als würde das Holz, aus dem sie geschnitzt sind, gleich in Flammen aufgehen (bei einer Statue aus dem Frankfurter Liebieghaus, 1525); da hält uns ein heiliger Franziskus seine klaffende Wunde entgegen (großes Bild), und eine überlebensgroße Jesusfigur, in einer der achteckigen Kapellen des Belvedere ausgestellt, gibt den direkten Blick auf die Krampfadern des Heilands frei.
Diese Magengruben-Ästhetik lässt sich durchaus auch theologisch begründen – es geht etwa um die Versenkung in Christi Leid und den Versuch von dessen Nachahmung. Dem heutigen Gemüt bleibt diese Art Frömmigkeit dennoch fremd, und die Ausstellung verlangt auch nicht, sich über Heilige, ihre Attribute oder Reliquien kundig zu machen: Im Belvedere werden die Bilder und Skulpturen – außerdem noch Münzen und Dokumente – klar als Kunst und nicht als Kultobjekte präsentiert (die bunt gestreifte Wandbemalung, nebenbei bemerkt, ist Geschmackssache).
Gerade wegen ihres suchenden Charakters aber sprechen die Werke den heutigen Blick an: So erforschten viele Künstler jener Zeit, ausgehend von italienischen Vorbildern, die Zentralperspektive, anstelle das Bildgeschehen nach hinten mit einem mittelalter-typischen Goldgrund zu versiegeln. Bei Michael Pacher, dem Südtiroler Großmeister der Bildraumgestaltung, blitzt das Gold noch durch ein gotisches Kirchenfenster auf, so als wollte der Künstler sagen: Schaut her, ich habe das Alte überwunden.
Übergänge sind aber selten eindeutig und sauber: In manchen Werken – etwa den Skulpturen des sogenannten Kremser Lentl-Altars – scheint oft nicht ganz klar, welche Teile posthum zerstört und welche schlicht nicht vollendet wurden. In zwei Passionsszenen wiederum – geschaffen von einem Künstler, der nur als „Monogrammist H“ überliefert ist – sind die Körperproportionen so absurd, die Gesichter so grotesk verzerrt, dass nicht eindeutig ist, wo die gewollte Expression aufhört und die schlicht tollpatschige Umsetzung der neuen, anatomisch komplexen Darstellungsweisen beginnt.
Solche Phasen des Uneindeutigen und Offenen haben Künstlerinnen und Künstler zu allen Zeiten fasziniert, auch die „Dürerzeit“ kennt zahlreiche Echos in der Kunstgeschichte. Damit diese Epoche präsent bleibt, braucht es Ausstellungen wie jene, die das Belvedere nun zeigt. Es ist zu wünschen, dass die Schau nicht nur von Kunsthistorikern, sondern auch von zeitgenössischen Kunstschaffenden und überhaupt von Menschen ohne ästhetische Scheuklappen wahrgenommen wird.
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