Autor und Dissident Liao Yiwu: Wuhan war "schlimmer als Tschernobyl“
„In den vergangenen gut 30 Jahren“, sagt Liao Yiwu, „habe ich das Massaker auf dem Tiananmen 1989 erlebt, das große Erdbeben in Sichuan 2008 und die Ausbreitung des Virus aus Wuhan 2020, drei Katastrophen, die den Lauf der Geschichte verändert haben – und über alles habe ich literarische Augenzeugenberichte hinterlassen, das ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen.“
Der dritte dieser Augenzeugenberichte des chinesischen Autors und Dissidenten Liao Yiwu, „Wuhan“, erscheint im Jänner im Fischer Verlag.
Geschrieben von Deutschland aus, wohin er nach seinem ersten Augenzeugenbericht geflohen ist. „Am Abend des 4. Juni 1989“, schreibt er dem KURIER, „habe ich ein langes Gedicht mit dem Titel ,Massaker’ verfasst und aufgenommen, das war in einer Bergstadt, im 5. Stock eines an den Hang gebauten Wohnheims mit ein paar Dutzend Wohnungen von Kollegen der gleichen Einheit, draußen auf den Straßen patrouillierte überall Polizei mit der Waffe im Anschlag.“
Für dieses Gedicht nach dem Massaker am Platz des Himmlischen Friedens wurde er verhaftet, vier Jahre eingesperrt und schwer misshandelt.
Der chinesische Autor und Dissident Liao Yiwu ist Ehrengast der 14. Ausgabe des Festivals „Literatur im Nebel“, die am 8. und 9. Oktober im niederösterreichischen Heidenreichstein über die Bühne gehen wird.
1989 verfasste er das Gedicht „Massaker“, wofür er vier Jahre inhaftiert und misshandelt wurde. 2011 gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Im Jahr 2012 wurde der Autor, der „unerschrocken gegen die politische Unterdrückung aufbegehrt“ (so die Preis-Begründung), mit dem Friedenspreis ausgezeichnet.
Elisabeth Orth, Sona MacDonald, Herta Müller, Marie-Luise Stockinger und andere beschäftigen sich in Heidenreichstein mit dem Werk des Autors. Er selbst spielt Flöte – was er sich im Gefängnis beigebracht hat.
Info zu Programm und Tickets unter literaturimnebel.at
Tschernobyl
Nun widmet sich der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels dem Virus, der Rolle der chinesischen Regierung in dessen Verbreitung, den Menschen rund um den Ausbruch der Pandemie.
„Das Virus aus Wuhan ist in der Tat nicht menschengemacht, aber das Leck und seine Verbreitung ähneln dem Leck im Atommeiler von Tschernobyl, ja, es ist sogar noch schlimmer“, schreibt er dem KURIER (übersetzt von seinem literarischen Übersetzer Hans Peter Hoffmann). Denn nachdem „zehn der größten chinesischen Städte von bewaffneten Truppen abgeriegelt worden waren, wusste die chinesische Regierung längst, wie schrecklich das Virus ist, ließ Flughäfen und Grenzen aber weiterhin offen – und so hat dieses hyperansteckende Virus die gesamte Menschheit angegriffen und infiziert“.
Liao Yiwu schreibt über die Menschen, die am Anfang der Pandemie im Land herumirrten, über die Journalisten und Bürger, die die Wahrheit über den Ursprung von Corona herausfinden wollten. Und nun im Gefängnis sitzen.
Er habe die Recherchen von Bürgerjournalisten früh in der Pandemie einigen europäischen Redaktionen angeboten.
„Alle hatten Angst, es handele sich um eine ,Verschwörungstheorie’“, schreibt Liao Yiwu. „Ich habe zahllose menschliche Tragödien mitbekommen, ich habe ganz eng die Selbstmedien einiger Bürgerjournalisten verfolgt, bis der erste, der das P4-Viruslabor untersuchte, verhaftet wurde – das war am 26. Februar 2020 und ich begann mit der Geschichte meines neuen Buches.“
Das wird nun auch Thema in Heidenreichstein sein. Dort, bei „Literatur im Nebel“, steht Liao Yiwu heuer im Zentrum, und damit seine Literatur.
Aber kann ein Buch überhaupt etwas bewirken in dieser realen Welt, mit der er sich auseinandersetzt? „Literatur und Geschichtsschreibung haben vielleicht keinen Einfluss auf den Lauf der Welt, nicht auf ihre Verrohung, nicht auf ihren Wahnsinn, nicht auf ihre Irrwege, nicht auf ihre Rückschritte. Aber Literatur und Historiographie kann all das festhalten: über die genaue Beschreibung einer Ameise, eines einzelnen Menschen und quer durch die Zufluchten des Waldes, der Welt und des menschlichen Herzens.“
Wie beobachtet Liao Yiwu den zunehmenden Einfluss Chinas in Europa? „Seit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens und dem Fall der Berliner Mauer hat die chinesische Diktatur eine langfristige Strategie gegen den demokratischen Westen auf den Weg gebracht: rücksichtslose Entwicklung der Wirtschaft, Vorherrschaft des Geldes und Geld als Weltreligion“, antwortet er.
„Die Mörder triumphieren“, hatte er in seiner Rede zum Friedenspreis gesagt, „sie haben das Land versklavt, bewusst plündern sie es, bewusst verwüsten sie es, bewusst pressen sie ihm das Mark aus. Zu den Menschen aus dem Westen sagen sie: Kommt nur zu uns, macht Fabriken auf, gründet Unternehmen, baut Hochhäuser, richtet das Internet ein. Solange ihr nicht von Menschenrechten redet und den Finger in die Wunde legt, könnt ihr machen, was ihr wollt.“
Die chinesischen Kommunisten seien „so etwas wie eine Prostituierte mit dem Körper voller Viren. Doch in ihrem Hang zu Geld und Schönheit lassen sich westliche Politiker und Finanzgruppen widerstandslos ,verführen’ – das sind menschliche Schwächen und kein Gott und keine Bibel konnte verhindern, dass die Büchse der Pandora geöffnet wurde.“
Aber bringen die internationalen Unternehmen nicht auch Öffnung? „Ich weiß nicht, wann China eine Demokratie werden wird, ich weiß nur, dass die chinesischen Kommunisten Hongkong an sich gerissen haben, dass sie Taiwan bedrohen und offen mit den Taliban kollaborieren, während den demokratischen Gesellschaften des Westens die Hände gebunden sind“, sagt Liao Yiwu. „Die deutsche Kanzlerin betonte noch öffentlich, der Aufbau des 5G-Netzes dürfe China nicht außen vor lassen, als ihr persönlicher Arzt schon ,positiv getestet’ wurde und ihr nichts anderes übrig blieb, als sich 14 Tage in Quarantäne zu begeben.“
Und China wusste die anfangs erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie mit den Mitteln des autoritären Staates für sich zu vermarkten: „Und dann rettet ein Milliardenvolk, das nach und nach das Virus besiegt hatte und noch einmal ,aufgestanden war’, wie es Mao Zedong vom Eingangstor der Verbotenen Stadt am Platz des Himmlischen Friedens schon am 1. Oktober 1949 verkündet hatte, unter Führung von Xi Jinping und dem Zentralkomitee der Partei die klagende Welt.“
Online
Auch ein weiteres Freiheitsversprechen des Westens hat sich in China nicht bewahrheitet: „Das Internet hat die Autokratie nicht zerstört, im Gegenteil, die Autokratie hat die westliche Technologie in großem Stil benutzt, um China flächendeckend ihrer Kontrolle zu unterwerfen“, sagt Liao Yiwu. „Wo man auch ist, es genügt, Dissident zu sein, und man wird abgehört und observiert, jede Kontobewegung und alles, was man im Netz äußert, wird aufgezeichnet und kann zu einem Beweis für staatsfeindliche Umtriebe gemacht werden.“
Aber es gibt Arten von Freiheit. Im Gefängnis brachte er sich das Flötenspielen bei, das wird er in Heidenreichstein auch tun. „Das ist eine besondere, einer ganz anderen Welt entstammende Freiheit!“, sagt Liao Yiwu.
Die Antworten in voller Länge
Der obige Text, der so auch in der Print-Ausgabe des KURIER erschienen ist, ist eine verdichtete Auswahl aus den Antworten, die Liao Yiwu dem KURIER übermitteln ließ. Diese sprengen die Kapazitäten von Print, finden sich aber im Folgenden in voller Länge:
Demnächst erscheint ein Buch von Ihnen auf Deutsch, in dem es um den Ursprung von Corona in Wuhan geht. Welche Ansicht vertreten Sie – war das Zufall, war es doch aus dem Labor, und was ist die Rolle der chinesischen Regierung danach?
Es ist noch nicht lange her, da haben die amerikanischen Geheimdienste einen Untersuchungs-bericht zum Corona-Virus veröffentlicht, der aus „reinem Zufall“ das gesamte Material und sämtliche Einzelheiten, die ich in meinem Buch zitiere, zusammenfasst. Das Virus aus Wuhan ist in der Tat nicht menschengemacht, aber das Leck und seine Verbreitung ähneln dem Leck im Atommailer von Tschernobyl, ja, es ist sogar noch schlimmer, was folgende Punkte belegen:
A. Nach offiziellen Materialen des Wuhan-Virenforschungsinstituts aus den letzten Jahren wurde dieses stark infektiöse Virus von einem Forschungsteam Shi Zhenglis, der verantwortlichen Leiterin des P4-Labors von Wuhan, im tausende Meilen entfernten Yunnan einer großen Anzahl von Fledermäusen in verschiedenen Höhlen entnommen, lange Zeit hierhin und dorthin gebracht, um dann im P4-Labor aufbewahrt zu werden.
B. Shi Zhenglis Team hat mit diesem „natürlichen“ Virus wiederholt Experimente durchgeführt, um „seine Wirkung zu verstärken“ und um schließlich mit einem „Switch“, wie Shi Zhengli das nennt, den „Schlüssel“ zu finden, mit dem dieses „natürliche Virus“ in das Abwehrsystem des menschlichen Körpers eindringen kann.
C. Bevor Ende 2019 acht Ärzte aus Wuhan, unter ihnen Li Wenliang, wegen der Ausbreitung eines „unbekannten Virus“ von der Polizei vorgeladen wurden, ahnte die chinesische Regierung in der Tat nichts von der Gefahr, die von diesem „unbekannten Virus“ ausging und das Ganze wurde zum „Gerücht“ erklärt. Notmaßnahmen wurden nicht eingeleitet – und so breitete sich das „unbekannte Virus“ in Windeseile im ganzen Land aus.
D. Nachdem jedoch mit Wuhan zehn der größten chinesischen Städte von bewaffneten Truppen abgeriegelt worden waren, wusste die chinesische Regierung längst, wie schrecklich das Virus ist, ließ Flughäfen und Grenzen aber weiterhin offen – und so hat dieses hyperansteckende Virus die gesamte Menschheit angegriffen und infiziert.
Langsam macht sich doch auch in Europa das Bewusstsein breit, dass wir in einer Zeitenwende stehen, dass so etwas wie das chinesische Zeitalter beginnen könnte, in dem China es an Macht und Einfluss mit den USA aufnehmen wird können. Wird das Ihrer Meinung nach so sein? Wie wird die Welt dann anders sein?
Seit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens und dem Fall der Berliner Mauer hat die chinesische Diktatur eine langfristige Strategie gegen den demokratischen Westen auf den Weg gebracht: rücksichtslose Entwicklung der Wirtschaft, Vorherrschaft des Geldes und Geld als Weltreligion. In meiner Rede „Dieses Imperium muss auseinanderbrechen“ zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, habe ich gesagt:
„Die Mörder triumphieren, sie haben das ganze Land versklavt, bewusst plündern sie es, bewusst verwüsten sie es, bewusst pressen sie ihm das Mark aus. Zu den Menschen aus dem Westen sagen sie: Kommt nur zu uns, macht Fabriken auf, gründet Unternehmen, baut Hochhäuser, richtet das Internet ein, solange ihr nicht von Menschenrechten redet und den Finger in die Wunde legt, könnt ihr machen, was ihr wollt. Zuhause habt ihr Gesetze, Zivilgesellschaft und öffentliche Meinung, da könnt ihr das nicht – wenn ihr zu uns kommt, könnt ihr euch mit uns im Dreck suhlen. Unsere Flüsse, unser Himmel, unsere Nahrung und unser Grundwasser werden ruiniert, bitte, unsere billigen Arbeitskräfte schuften Tag und Nacht am Fließband wie Maschinen, bitte. Die Hälfte der Menschen in China trägt wegen der Umweltverschmutzung Krebsgeschwüre davon an Körper, Seele und Gemüt, bitte, solange nur der Gewinn steigt. Unter der größten Müllhalde der Welt wird der größte Markt der Welt begraben, für immer ...
Unter dem Begriff des freien Marktes haben sich westliche Finanzgruppen mit den Mördern zusammengetan und die größte Müllhalde der Welt entstehen lassen, das „Wertesystem des Mülls“, das Profit über alles stellt, beeinflusst mehr und mehr die ganze Welt. Die einfachen Menschen in China wissen, wer Geld hat, dem steht eine Hintertür offen, am Ende werden alle ausnahmslos ihr ausgeweidetes Vaterland im Stich lassen, in den Westen emigrieren und dort den saubern Boden, den Sonnenschein und Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit genießen, sogar einer Kirche werden sie beitreten, damit der von den damaligen Diktatoren gekreuzigte Jesus sie von ihren Sünden erlöst ...“
Das ist neun Jahre her, meine Worte sind längst vergessen, doch der „größte Markt der Welt“ hat sich zur „größten Virusschleuder der Welt“ gewandelt. Nicht das „Zeitalter Chinas“ steht vor der Tür, sondern das „Zeitalter des Virus aus Wuhan“. Das Chaos der Welt steht niemals still, eine Tragödie wird schnell von der nächsten überlagert …
Ich bin ein heimatloser Schriftsteller, ich habe mir dieses Chaos eine Weile erhobenen Hauptes angeschaut, doch oft gewohnheitsmäßig den Kopf gesenkt und nach Innen geschaut, auf mein Herz, auf die Tiefe der Geschichte – nach dem Tiananmen-Massaker habe ich begonnen, alles aufzuzeichnen, angefangen mit 1949 und der Etablierung dieser kannibalischen Diktatur. Alles, das ist nichts besonders Großartiges, kaum mehr als das Leben einer Ameise, das auch den Wald einschließt. Deshalb habe ich die Tragödie der vielen einfachen Menschen, die isoliert im eigenen Vaterland herumirrten und nicht nach Hause konnten, in meinem neuen Roman „Wuhan“ in der Figur des Ai Ding zum Thema gemacht … unter größten Gefahren schafft er es nach Hause, wo man ihn festnimmt … Wird er ermordet? Verrückt? Werden ihm alle Knochen im Leib gebrochen? Niemand weiß es. Vielleicht wird ein Suspense-Regisseur wie Alfred Hitchcock nach meinem Dokumentarroman, der Phantasie und reale, am Ende nacheinander von der Bildfläche verschwindende Menschen verbindet, noch einmal einen Film drehen wie „Die Vögel“.
China streckt längst seinen Arm auch nach Europa aus, mit Investitionen vor allem im Südosten und politischem Einfluss. Mit welchen Gefühlen verfolgen Sie das, haben Sie Sorge, dass China auch Ihnen persönlich dadurch wieder gefährlich nahe kommen könnte? Wie könnte, wie sollte Europa reagieren? Sehen Sie noch die Chance auf eine Annäherung im Politischen, also dass sich China demokratisieren könnte?
Die Antwort zu dieser Frage steht in meinem neuen Buch, Kapitel 9: „Das Virus verlässt das Land“. Als erstes Land der EU hat Italien China fest in die Arme geschlossen, 2019 war Xi Jinping in Rom zu Besuch und wurde mit höchsten Ehren empfangen. Italien hat nicht nur die Neue Seidenstraße akzeptiert, die Führer beider Länder haben auch eine Reihe von Abkommen unterzeichnet und 2020 wurde zum „Jahr freundlicher Reisen zwischen Italien und China“, aber dann kam das Virus:
Italien, Spanien und Frankreich wurden zu Epizentren der Pandemie und belegten, was Ansteckungen und Sterbequoten angeht, in Europa Platz 1, 2 und 3. Italien hat seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr in so kurzer Zeit so viele Särge produzieren müssen. Hu Xijin, Chefredakteur der unter der Flagge der Renmin ribao segelnden Global Times, hat an diesem Punkt folgenden Kommentar veröffentlicht:
„Italien ist bereits vollständig ‚hubeisiert‘ und ‚wuhanisiert‘, noch bedauerlicher ist, dass Italien nicht die erstaunliche Unterstützung bekommen kann, wie sie Wuhan und Hubei von ganz China erhalten hat. Italien fehlen offensichtlich Krankenhäuser wie das Huoshenshan und das Leishenshan und es ist nicht in der Lage, über Nacht ein Containerkrankenhaus aus dem Boden zu stampfen; ein Großteil der leicht Infizierten bleibt zu Hause sich selbst überlassen und trotz ‚städtischer Lockdowns‘ ist die Ausbreitung der Pandemie nur schwer zu brechen. Das Ausmaß der Pandemie in den anderen europäischen Städten hat die Höchstmarke der Gebiete außerhalb von Hubei bereits überschritten, sie verharren am Scheideweg zur vollständigen Mobilisierung des Seuchenschutzes, ein äußerst bitteres Zögern. Amerika ist vom pandemischen Geschehen am weitesten entfernt, doch ist auch dort die Situation sehr unerfreulich, darüber hinaus gibt es eine Debatte darüber, welches Land ‚öffentlich falsche Zahlen‘ vorlegt – wie das weitergeht, ist schwer zu sagen …
Im beklagenswerten Italien, dem Land mit den meisten Corona-Toten, ist gestern die Zahl der Todesopfer an einem Tag auf 427 gestiegen, insgesamt sind es nun 3405 Fälle, mehr als die 3250 in China …
Bleibt standhaft. Glaub nicht, dass es nur dir schlecht geht, sei zuversichtlich, dann kannst du auch anderen Mut machen.“
In meinem neuen Buch erzählt Zhuang Zigui dem Protagonisten Ai Ding in einem von vielen Ferngesprächen, dass die Führer von Europa und Amerika, wie Chefredakteur Hu sagte, voller Zuversicht und guten Willens auf China schauen. Die deutsche Kanzlerin betonte noch öffentlich, der Aufbau des 5G-Netzes dürfe China nicht außen vor lassen, als ihr persönlicher Arzt schon „positiv getestet“ wurde und ihr nichts anderes übrig blieb, als sich 14 Tage in Quarantäne zu begeben; einige Tage zuvor erst hatte der englische Premier Johnson den Ausdruck „Herdenimmunität“ in Umlauf gebracht, doch die Mikrophone waren kaum zu, als er selbst „positiv“ war, eine Quarantäne nicht mehr ausreichte und sofort „akute Maßnahmen“ ergriffen werden mussten; und Amerika, noch ganz trunken von seinem „Etappensieg im Handelskrieg“, vernachlässigte, hinter das Licht geführt wie es war, seine Schutzmaßnahmen und die Zahl der Corona-Toten ging durch die Decke; damals waren es mehr als 140000 Tote, mehr als im zweiten Weltkrieg …
Und dann rettet ein Milliardenvolk, das nach und nach das Virus besiegt hatte und noch einmal „aufgestanden war“, wie es Mao Zedong vom Eingangstor der Verbotenen Stadt am Platz des Himmlischen Friedens schon am 1. Oktober 1949 verkündet hatte, unter Führung von Xi Jinping und dem Zentralkomitee der Partei die klagende Welt. Da Amerika der größte Hemmschuh für dieses „China rettet die Welt“ war, wurde erneut in das antiamerikanische Horn geblasen. Mit 18 Millionen aktiven Followern stand ein inländischer WeChat-Miniblog mit Clicks und Views auf Platz 1 der national gesonnenen @ZhidaoSchools, mit Freude vernahm man die Nachricht von den 140000 Toten in Amerika, schnell gab es Kommentare wie: „Totgeweiht: Der Untergang Amerikas“, aus den 140000 wurde eine Million gemacht, es hieß, der Verbleib der Leichen „sei unklar“ und über einen Lieferengpass von amerikanischem Schweinefleisch kam man zu folgendem Schluss:
„Wenn sie nicht verbrannt und nicht von 10000 Menschen vergraben wurden, was hat man dann mit den vielen Leichen gemacht, wo sind sie geblieben? Am wahrscheinlichsten ist: Amerika hat aus den Leichen Gefrierfleisch gemacht, es für Rindfleisch, Schweinefleisch oder irgendein etwas anderes ausgegeben, es zu Kochfleisch verarbeitet oder zu Hamburgern und Hot Dogs und an die Amerikaner verfüttert. Zur Zeit machen viele amerikanische Rindfleisch- und Milchfabriken pleite. Mit dem Kannibalismus kann man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: das Problem der Wirtschaftskrise mit ihren Engpässen in der Nahrungsmittelversorgung und das Problem der Entsorgung der Leichen.“
Angesichts dieses Zitats mag sich der unvorbereitete westliche Leser wie vor den Kopf geschlagen fühlen, aber es ist die Wahrheit. Ich weiß nicht, wann China eine Demokratie werden wird, ich weiß nur, dass die chinesischen Kommunisten Hongkong an sich gerissen haben, dass sie Taiwan bedrohen und offen mit den Taliban kollaborieren, während den demokratischen Gesellschaften des Westens die Hände gebunden sind. „Verführung“, ein Allerweltswort! Nun, die chinesischen Kommunisten sind so etwas wie eine Prostituierte mit dem Körper voller Viren, doch in ihrem Hang zu Geld und Schönheit lassen sich westliche Politiker und Finanzgruppen widerstandslos „verführen“ – das sind menschliche Schwächen und kein Gott und keine Bibel konnte verhindern, dass die Büchse der Pandora geöffnet wurde.
Wie sehen Sie die Zerschlagung der großen Internetkonzerne und die neue Politik des „gemeinschaftlichen Wohls“, die in China nun verfolgt wird? Ist Xi Jinping bereits so abgesichert, dass ihm Macht wichtiger sein darf als wirtschaftlicher Aufschwung? Ist das auch ein Schlag gegen eine Jugend, die WeChat und die anderen Kanäle nützt, damit diese nicht aufbegehrt?
„Das Internet wird die Autokratie zerstören, der Markt wird die Demokratie voranbringen“, das war eine Zeitlang das beliebte Mantra eines amerikanischen Politikers, in das der damalige Präsident Clinton einstimmte. Mit der kräftigen Unterstützung Amerikas bekam China Zugang zur WTO und kam in den Genuss der Meistbegünstigungsklausel – das ist gut 20 Jahre her, das Internet hat die Autokratie nicht zerstört, im Gegenteil, die Autokratie hat die westliche Technologie in großem Stil benutzt, um China flächendeckend ihrer Kontrolle zu unterwerfen: Wo man auch ist, es genügt, Dissident zu sein, und man wird abgehört und observiert, jede Kontobewegung und alles, was man im Netz äußert, wird aufgezeichnet und kann zu einem Beweis für staatsfeindliche Umtriebe gemacht werden.
Im Restaurant, am Bahnhof, auf dem Flughafen wird dein Gesicht von der Polizei per Handy oder Computerbildschirm automatisch erkannt – das Internet und der Markt, vom Westen erfunden und stetig weiterentwickelt, haben auf diese Weise die Diktatur wirkungsvoll unterstützt. Und darüberhinaus die westlichen Demokratien herausgefordert – so hat China z.B. eine Firewall, sie zu überwinden und in ausländischen Netzen zu browsen, gilt als „Gesetzesbruch und Verbrechen“, und die Polizei hat das Recht, entsprechend Verhaftungen vorzunehmen; die westlichen Staaten haben eine solche Firewall nicht: Fast jeder Chinese im Ausland und nicht wenige an China interessierte Ausländer können nach Belieben die Software von WeChat, Weibo und Huawei benutzen, wobei sie allerdings, ohne es zu merken, überwacht und verfolgt werden; wer extreme, verdächtige, ironische oder sonstwie umstürzlerische Ansichten äußert, dem wird der Operator von WeChat eine Warnung über die „Löschung des Accounts“ schicken, oder ohne Warnung den Account sofort löschen, dann „verschwindet“ der Betroffene für eine Weile, und die Leute daheim, Freunde, Familie, werden unter Umständen ebenfalls Schwierigkeiten bekommen.
Sichtbar wurde das im Fall der Autumn Rain Covenant Church in meiner Heimatstadt Chengdu. Aufgrund der ständigen Überwachung dieses speziellen WeChat-Freundeskreises hat die Polizei am Abend des 9. Dezember 2018 auf einen Schlag über 100 Angehörige dieser christlichen Hauskirche verhaften können, ihre Konten eingefroren und sämtliche Augenzeugenberichte gelöscht. Pater Wang Yi, die zentrale Figur in diesem Fall, wurde wegen „Anstiftung zum Umsturz der staatlichen Regierungsgewalt“ zu 9 Jahren Gefängnis verurteilt.
Wie sehen Sie selbst, nach so langer Zeit in Deutschland, persönlich auf China? Und wie empfinden Sie die deutschen, die europäischen Debatten? Damit meine ich insbesondere jene große Debatte darüber, wie die Demokratie mit dem Auseinanderreißen der Gesellschaft umgehen soll.
Ich lebe seit zehn Jahren im Exil. Als ich vor zehn Jahren aus China geflohen bin, trug ich je ein Exemplar des Buchs des Großhistorikers (Shiji) und des Buchs der Wandlungen (Yijing) bei mir, das war und ist „mein China“, das ich nie verlassen habe. Am frühen Morgen des 13. Juli 2017 habe ich mir nach dem Yijing ein Orakel gelegt und es ergaben sich die Zeichen “明夷” (mingyi), übersetzt heißt das: „Das Licht wird verletzt, die Sonne sinkt zum Mittelpunkt der Erde.“ Einige Stunden später erreichte mich die Nachricht, dass Liu Xiaobo unter Arrest gestorben war.
Ich, das ist China oder Sichuan, ich muss darauf nicht „aufpassen“. Ich kämpfe unentwegt gegen dieses eiskalte Regime und für meine von der Tyrannei verwüstete Heimat. In Deutschland und Europa gibt es oft Diskussionen, früher über das Für und Wider der EU und immer wieder über die Aufnahme von Flüchtlingen, das ist seit Sokrates und dem alten Athen eine gute Tradition. Jede Ansicht hat ihre Existenzberechtigung, allein Diktatoren sind Todfeinde demokratischer Systeme. Vor allem in Zeiten der Globalisierung, wo der Lebensraum des Menschen widersinnigerweise immer kleiner wird.
In China, diesem weltweit größten Gefängnis, dieser weltweit größten Maschinerie für Gehirnwäsche, musst du jeden Augenblick überlegen: „Will ich über die Mauer?“ Wenn ja, bist du ein Verbrecher; wenn nein, ein Sklave. Deshalb ist die große Diskussion in Deutschland und Europa über die Frage, „wie man mit dem Auseinanderbrechen der Gesellschaften umgeht“, für Chinesen ein Luxus, eine Spielerei.
Welche Rolle schreiben Sie dem Schreiben zu? Ist Literatur überhaupt noch ein Werkzeug, um sich in der Welt zu behaupten, um diese zu beeinflussen?
In den vergangenen gut 30 Jahren habe ich das Massaker auf dem Tiananmen 1989 erlebt, das große Erdbeben in Sichuan 2008 und die Ausbreitung des Virus aus Wuhan 2020, drei Katastrophen, die den Lauf der Geschichte verändert haben – und über alles habe ich literarische Augenzeugenberichte hinterlassen, das ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen.
Am Abend des 4. Juni 1989 habe ich ein langes Gedicht mit dem Titel „Massaker“ verfasst und aufgenommen, das war in einer Bergstadt, im fünften Stock eines an den Hang gebauten Wohnheims mit ein paar Dutzend Wohnungen von Kollegen der gleichen Einheit, draußen auf den Straßen patrouillierte überall Polizei mit der Waffe im Anschlag. Wenn mich in dem hellhörigen Gebäude jemand angeschwärzt, wenn plötzlich die Polizei meine Wohnung gestürmt hätte … ich hatte großes Glück … später, bei der Anhörung, sagte der Richter: „Neun Monate, bis der Fall gelöst war, zweieinhalb Jahre bis zur Verhandlung, ein paar Dutzend Verhaftungen und Sie als einziger werden bestraft. Liao Yiwu, merken Sie sich, was ich Ihnen jetzt sage, die Partei und der Staat hat an euch paar Literaten kein Unrecht begangen.“
Am Nachmittag des 12. Mai 2008 gab es ein Erdbeben der Stufe 8, auch mein Zuhause in einem Vorort von Chengdu schwankte, doch ich scherte mich nicht darum, ich verrückter Hund, und machte mich eilig auf zum Epizentrum des Bebens, ein halbes Jahr später war das erste Manuskript von „Irrenhaus Erdbeben“ in Form eines Tagesbuchs fertig. Ich berichtete, wie die Kreisstadt Beichuan in ihrer Gesamtheit begraben wurde – von einem Augenblick auf den anderen über 30000 Menschenleben ausgelöscht – wohl oder übel zog man ein paar hundert Kilometer weiter und baute einen neuen Kreis Beichuan auf; um jedoch die Wahrheit über die Zahl der Toten und die eigene Verantwortung zu vertuschen, wurde offiziell vom „Erdbeben von Wenchuan“ gesprochen – die „Peripherie des Erdbebens“ im Kreis Wenchuan und das „Epizentrum“ in Beichuan lagen hundert Meilen auseinander, in Wenchuan waren nicht einmal 400 Menschen ums Leben gekommen, doch die ganze Welt plapperte sofort der chinesischen Regierung nach und sprach vom „Erdbeben von Wenchuan“, nur in meinem Buch stand weiterhin „Erdbeben von Sichuan“ und „Erdbeben von Beichuan“: So wie heute alle Welt von Covid-19 spricht, ich aber an der Bezeichnung Virus aus Wuhan festhalte.
Am 23. Januar 2020 ist Wuhan vom Militär geschlossen worden, ich habe daraufhin auf der Stelle von allen möglichen Webseiten Material heruntergeladen, denn mir war klar, dass diese Materialien früher oder später gelöscht werden würden. Ich habe zahllose menschliche Tragödien mitbekommen, ich habe ganz eng die Selbstmedien einiger Bürgerjournalisten verfolgt, bis Kcriss, der erste, der das P4-Viruslabor untersuchte, verhaftet wurde – das war am 26. Februar 2020 und ich begann mit der Geschichte meines neuen Buches.
Zur gleichen Zeit berichteten westliche Medien, Chen Wei, hochrangiger Offizier der Volksbefreiungsarmee und Spezialist für die Abwehr chemischer Waffen, habe mit einer Spezialeinheit das P4-Labor übernommen, während Shi Zhengli, dessen verantwortliche Leiterin, eine Zeitlang im In- und Ausland im Brennpunkt des öffentlichen Interesses stand – denn es war Shi Zhengli, die nach dem SARS-Desaster als Spezialistin begonnen hatte, Fledermausviren zu erforschen, in den tausende Meilen entfernten Höhlen von Yunnan Proben sammelte und nach Wuhan brachte – das ging aus den Materialien der Website des Wuhan-Virenforschungsinstituts eindeutig hervor. Ich habe das vollständig heruntergeladen und wie erwartet sind viele Schlüsselmaterialien anschließend gelöscht worden.
Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass Kcriss den Ausgangspunkt des Virus von Wuhan untersuchen wollte und in sein Verderben rannte. Doch als ich diese wahre Geschichte an die Redaktionen einiger europäischer Zeitungen schickte, wurde sie nicht angenommen, alle hatten Angst, es handele sich um eine „Verschwörungstheorie“. Denn damals hatten diese Zeitungen noch Korrespondenten in Peking und die Pekinger Korrespondenten behaupteten, es sei im Augenblick nicht mehr als eine populäre, nicht zu beweisende Behauptung, dass sich das Virus vom P4-Labor aus im ganzen Land verbreitet habe – doch gleichzeitig verbot die chinesische Regierung westlichen Journalisten den Zugang nach Wuhan und verwies ohne Angabe von Gründen später eine ganze Reihe von europäischen und amerikanischen Journalisten des Landes.
Kcriss blieb einige Monate verschwunden, tauchte eines Tages plötzlich wieder auf, gab eine vage Video-“Erklärung“ ab und verschwand wieder von der Bildfläche. Bis heute ist er nicht wieder gesehen worden. Über diese Katastrophe von historischem Ausmaß duften weder chinesische noch westliche, weder in- noch ausländische Journalisten aus erster Hand berichten, eine Katastrophe, von der die ganze Welt betroffen ist und deren „wahre“ Hintergründe weiter vertuscht werden. Deshalb vermisse ich Kcriss, diesen gerade einmal 25 Jahre alten jungen Burschen, diesen Pionier auf der Suche nach dem Ursprung des Virus.
Dann trat mit Zhang Zhan eine zweite Bürgerjournalistin auf den Plan und drehte, in weitem Bogen um den Ort kreisend, an dem Kcriss verhaftet worden war, ein Video. Anschließend wurde auch sie verhaftet und zu vier Jahren verurteilt – und trat aus Protest in einen monatelangen Hungerstreik. Für sie habe ich das Nachwort meines neuen Buches ein drittes Mal umgeschrieben. Es ist gut möglich, dass sie im Gefängnis sterben wird.
In einem Wort: Die Aufgabe von Literatur und Geschichtsschreibung ist zuallererst das Freilegen und Festhalten der Wahrheit, und damit Menschen das im Gedächtnis bleibt, muss das in einer hochästhetischen Sprache geschehen, einer ausgereiften, festen, aber doch über sich hinausweisenden Sprache. Seit jeher waren der Beruf des Schriftstellers und der Beruf des Historikers etwas Außerordentliches, ohne die Weitergabe von Büchern, die die Wahrheit festhalten, hätte die Menschheit kein geistiges Leben und ohne geistiges Leben hätte das Leben weder Wert noch Sinn.
Literatur und Geschichtsschreibung haben vielleicht keinen Einfluss auf den Lauf der Welt, nicht auf ihre Verrohung, nicht auf ihren Wahnsinn, nicht auf ihre Irrwege, nicht auf ihre Rückschritte. Aber Literatur und Historiographie kann all das festhalten: über die genaue Beschreibung einer Ameise, eines einzelnen Menschen und quer durch die Zufluchten des Waldes, der Welt und des menschlichen Herzens.
Sie haben sich, soviel ich weiß, das Flötenspielen im Gefängnis beigebracht. Welche Erinnerungen und Gefühle weckt es in Ihnen, auf diesem Instrument zu spielen?
Das ist eine besondere, einer ganz anderen Welt entstammende Freiheit! Ein unsichtbarer geistiger Tanz, ein langer Hauch aus dem All, Blätter im Wind oder die würdevollen langen Ärmel der Gewänder unserer Ahnen, eine „Freiheit“, die dir niemand geben und die dir niemand rauben kann.
Ich erinnere mich genau, wie Sima, der Mönch, an einem Ende der Gefängnismauer für mich, der ich kurz vor meiner Entlassung am anderen Ende stand, das Stück “Einig auf Erden“ (auch „Die offene Tür“) spielte: Oh Du, Oh Du, Du Gast hier auf Erden, schnell, geh, die sichtbare, die unsichtbare, die Pforte steht offen, schnell, verlass das Gefängnis, geh, geh, immer weiter in das Vergessen.
Wie ich den alten Mönche verstehe, meinte er mit Buddha: „Die Welt ist Illusion“ – doch habe ich es nicht geschafft, ich habe das Vergessen nicht erreicht … ich bin durch das Vergessen hindurch zur Erinnerung gelangt, ein langer Wind weht zum Horizont, und vom Horizont dorthin zurück, von wo er kam, das ist der ewige, unvergessliche Mönch Sima, die unvergleichliche Illusion der Wahrheit … Widerhall der Freiheit auf dem Grunde des Herzens!
Höher als die Mauer ist der Berg
Höher als der Berg ist wieder ein Berg
Im Traum brichst du aus
Über die Mauer, über die Berge, über die Wolken
Es heißt „Das Herz ist höher als der Himmel“
„Das Herz ist höher als der Himmel“, dieses Gefängnis
Wer kann es überwinden
Übersetzung Hans Peter Hoffmann
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