„Ich bin wieder hier, ich habe hier Freunde, mein Vater ist österreichischer Staatsbürger. Und ich suche auch um diese Staatsbürgerschaft an“, sagt de Waal. Der fast 93-jährige Victor de Waal, Edmunds Vater, hat seine ersten Lebensjahre noch im Wiener Palais verbracht. Durch eine Gesetzesänderung hat er nun die österreichische Staatsbürgerschaft erlangt – und dies, wie Edmund schildert, „für seinen Großvater, für seine Großmutter“ gemacht.
„Seine Großmutter verübte 1938 Selbstmord, sein Großvater starb 1945 staatenlos“, erzählt de Waal. Dass sein Vater jetzt wieder Österreicher werden konnte, hat ihn „hoch erfreut“.
Erzählungen haben Macht. Edmund de Waal betont: „Ich bin nur ein kleiner, kleiner Teil dieses Akts der Erinnerung.“
Eine Erinnerung, die er auch in seinem neuen Buch „Camondo“ fortschreibt. Diesmal geht es um Paris, um die Rue de Monceau, in der einst sein Vorfahre Charles Ephrussi den berühmten „Hasen mit den Bernsteinaugen“ hütete, eine Netsuke genannte japanische Figur.
Die dort lebenden Camondos waren mit den Ephrussis und Proust befreundet und Teil der Pariser Gesellschaft. Bis sie dort der Horror der 1930er und 1940er Jahre einholte.
„Damit eine Geschichte Kraft hat und etwas verändert, muss sie etwas real, lebendig machen“, sagt de Waal. „Man muss glauben, dass all diese Menschen leben – in all ihrer Freude und ihren Tragödien. Dann hat die Geschichte die Kraft der Empathie, des Mitgefühls. Dann kann der Leser erleben, was es heißt, ein Migrant zu sein, von einem Land ins andere zu kommen.“ Denn Moïse de Camondo zog aus Konstantinopel nach Paris. Und de Waal will zeigen, „was es heißt, seine Familie zu verlieren. Oder zu versuchen, sich anzupassen, in einer neuen Kultur zu verschwinden.“
„Camondo“ ist ein Roman in Briefen an Moïse de Camondo – naturgemäß ohne Antworten. Ist das nicht ein Akt der Einsamkeit? „Das ist eine interessante Art, das zu bezeichnen. Ich verbringe viel Zeit mit den Toten. Ich scheine einfach in der Vergangenheit zu leben. Ich habe erst, als ich das Buch in Händen hielt, gemerkt, dass er ja nicht zurückschreibt. Es ist eigentlich eine Reihe an Briefen – und Schweigen. Das war für mich eine Überraschung.“
Das Buch birgt ein sehr heutiges Thema, die Migration. Und wie mit Migranten umgegangen wird. Unter diesen gab und gibt es „das starke Bedürfnis, gute Bürger zu sein, der Gesellschaft voll anzugehören“, sagt de Waal. Aber es stellt sich auch die Frage, wie sichtbar ihr früheres Leben bleiben darf. „Was sie zurücklassen, was sie mit sich tragen“, sagt de Waal. Und „in Paris, in Wien, überall sagen die Menschen: Ihr gehört nicht hierher. Ihr bringt etwas Unreines aus einer anderen Kultur mit. Das ist immer die Sprache der Macht, der Hegemonie: Wir, die richtigen Wiener, die richtigen Pariser haben das Recht zu sagen, wer hier sein darf. Und wer nicht. Und das hat zu giftigen, schrecklichen Verbrechen geführt.“
Die Familie de Waal hat eine Bibliothek des Exils gegründet – mit 2.500 Büchern von Menschen, die Migranten, Flüchtlinge waren. „Von Ovid, Dante bis zu hunderten heutigen Schriftstellern“, sagt de Waal. „Wir hatten Bildungsprojekte mit Tausenden Menschen. Das ist eine eindrückliche Art greifbar zu machen, dass wir alles, alles Menschen verdanken, die von einem Land über eine Grenze in ein anderes Land gehen mussten. Unsere Sprache, unsere Literatur, unsere Kultur, wer wir sind. Das ist es, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.“
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