Aus dem Vollen der Erinnerungen geschöpft
Am 10. Dezember 2014 gab Boris Nemzow, stellvertretender Ministerpräsident unter Boris Jelzin und später glühender Putin-Gegner, ein aufsehenerregendes ARD-Interview: „Man darf mit Putin keine Kompromisse machen. Er hat sich die Krim genommen. Als Nächstes wird er sich Kiew nehmen, danach ist die Republik Moldau dran, dann Polen und die baltischen Staaten. Das ist ein Räuber. Er versteht nur die Sprache der Stärke, keine andere Sprache.“ – Zehn Wochen später war Nemzow tot, auf der Moskwa-Brücke in Sichtweite des Kreml in Hinterkopf und Rücken geschossen.
Paul Lendvai, Urgestein des außenpolitischen Journalismus in Österreich, erzählt in seinem neuen Buch „Über die Heuchelei“ diese Episode aus seinem reichen Erinnerungsschatz als Beleg dafür, dass man nur sehen muss, wenn man sehen will. Und stellt die Frage, warum weltweite Geheimdienste, Forschungseinrichtungen, Politiker, auch Journalisten so oft so falsch liegen in ihren Einschätzungen, was das Kommende betrifft.
Anlass für das Büchlein: Russlands Krieg, Migration, Klimawandel, Inflation, Trump und die gerade herrschende Endzeitstimmung. Und die Heuchelei. Lendvai, Ungarn-, Europa und Osteuropa-Kenner wie kaum ein Zweiter, schöpft aus den zahllosen Begegnungen seines langen journalistischen Lebens, um anhand ihrer Geschichte zu erzählen. Über die Dichter von Sartre bis Shaw und H. G. Wells, die in ihrer Bewunderung für die Sowjetunion falsch lagen. Über die merkwürdige deutsch-russische Liebe nicht nur Gerhard Schröders, sondern auch unter Angela Merkel. Über Viktor Orbán natürlich, den „Weltmeister des Zynismus“, über den „verwirrenden Alleingänger“ Emmanuel Macron bis hin zu Sebastian Kurz, den „Mann hinter den Masken“.
Ein bisschen viel Stoff für netto knapp 150 Seiten, ein bisschen viel „ich“ auch – aber dennoch spannend zu lesen und zu erinnern.
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