Dirigent Pappano bedauert, dass Netrebko in London ausgeladen wurde
Sir Antonio Pappano, der Maestro mit dem italienischen Namen und dem britischen Adelstitel, erweist sich im Gespräch als Gentleman, am Dirigentenpult als passionierter Italiener.
22 Jahre war er Musikdirektor der Royal Opera Covent Garden, in der kommenden Spielzeit übernimmt er das London Symphony Orchestra, dem Orchestra dell’ Accademia Nazionale di Santa Cecilia bleibt er als Music Director Emeritus erhalten.
Bei den Osterfestspielen in Salzburg führt er eine Rarität in Starbesetzung auf: „La Gioconda“ von Amilcare Ponchieilli mit Anna Netrebko, Jonas Kaufmann und Luca Salsi.
KURIER: Welche Anrede ziehen Sie vor? Maestro? Sir?
Antonio Pappano: Ich bin auch Knight of the Royal Victorian Order. Aber Maestro ist ok.
Was ist das Besondere an „La Gioconda“?
Das ist eine Art Brücke zwischen dem mittleren Verdi, dessen Spätwerk und dem Anfang von Puccini. Er hat bei Ponchielli studiert. „La Gioconda“ ist noch kein Verismo, aber sie nimmt ihn auf eine gewisse Weise vorweg, sie lässt ihn erahnen, das ist wie eine Vision. Man könnte sagen, das ist ein großer Schinken, aber ich liebe diese Musik, diese Emotionen.
Warum wird „La Gioconda“ so selten aufgeführt?
Diese Oper ist lang, es gibt große Ballett-Szenen. Der Dirigent muss die Musik lieben, wenn es nur ein pauschales Bumm Bang Bang ist, kann das ziemlich vulgär und banal klingen. Dann kommt noch dazu, dass Regisseure eine gewisse Furcht vor so einer Oper haben, denn der Stil ist ziemlich oldfashioned. Es ist kein Verismo und für Regisseure fast zu melodramatisch. Das ist auch ein Grund.
Wie stellt man so eine monumentale Oper szenisch dar?
Wir zeigen Venedig, das alte Venedig, das auch das von heute ist, denn Venedig ist und bleibt Venedig. Das Szenario ist von einer Grandeur, einer Schönheit und gibt genug Raum für Inspiration und Kreativität.
Victor Hugos Stück böte Stoff für eine Netflix-Serie: Eine gut aussehende Frau wird von einem Unhold verfolgt, sie weist ihn zurück, er erpresst sie, denunziert ihre Mutter als Hexe. Wäre das nicht ein MeToo-Fall?
Absolut. Die Gioconda selber ist eine Art Stalker. Sie ist so verliebt in Enzo, sie verfolgt ihn ständig und will ihn nicht loslassen. Am Ende aber wird sie zur Heldin und unternimmt alles, damit er und seine Geliebte glücklich werden. Sie opfert sich. Anna Netrebko ist schon ganz in dieser Welt. Sie bringt alles mit, diese Natürlichkeit.
Heute gibt es immer wieder Proteste gegen sie, weil sie nicht deutlich gegen den Krieg in der Ukraine protestiert. Wie sehen Sie das?
Das ist sehr kompliziert. Ich verstehe beide Seiten, aber es ist so einfach, Leute zu canceln. Ich finde, man muss das alles genau bedenken und versuchen, eine Balance zu finden. Netrebko hat immer noch Familie in Russland. Was soll sie denn da ständig verkünden?
In London wurde Netrebko doch auch ausgeladen.
Weil die Presse in England so stark ist. Es ist kein Geheimnis, dass Netrebko seit drei Jahren nicht mehr in London gesungen hat. Ich bin nicht glücklich darüber. Aber das ist unsere Welt, leider.
Viele Sänger meinen, Regie werde heute wichtiger genommen als die Sänger. Sehen Sie das auch so?
Das Thema ist uralt, die Diskussionen gab es schon in den 1980ern. Man muss eine Balance finden. Wir müssen alles machen, dass die Musik respektiert, die Geschichte erzählt wird, und nicht die Idee, die aus einer Geschichte eine andere macht.
Viele Sänger meinen, es gäbe bei Neuproduktionen zu viele Proben. Stimmt das?
Wir wollen alle ein Spektakel, wo Regie und Musik zusammenkommen. Ich versuche immer, den Sängern zu sagen, wann sie markieren sollen. Aber es gibt Leute, die können das nicht. Das ist immer gefährlich. Das Orchester muss wirklich gut balanciert sein, die Dynamik muss präzise einstudiert sein, sodass die Sänger wirklich durchkommen können. Wenn die immer forcieren müssen, ist das ein Problem. Aber oft gibt es bei den wenigen Proben nicht genug Zeit, für diese Balance zu sorgen. Dann sind die Sänger natürlich unter Druck.
Sie haben an der Wiener Staatsoper Wagners „Siegfried“ dirigiert, aber keinen Verdi. Können Sie sich vorstellen, mit den Philharmonikern, die in der Oper im Graben spielen, italienische Opern so zu spielen, wie Sie sich das vorstellen?
Die Wiener Philharmoniker können alles spielen, aber man braucht die Zeit zu probieren und zu präzisieren, nicht nur das Zusammenspiel mit dem Ensemble, auch die Akzentuierung. Aber die Wiener Philharmoniker sind das größte Opernorchester der Welt, die können alles.
Simon Rattle hat wegen des Brexit Großbritannien verlassen. Käme das auch für Sie infrage?
Ich lebe doch schon so viele Jahre in London, da kann man doch nicht zur London Symphony „Nein“ sagen. Aber ich bin sehr enttäuscht, wie das mit dem Brexit gekommen ist. Ökonomisch ist die Situation nicht einfach. Der Brexit war sicher ein Fehler. Aber hoffentlich wird alles wieder besser werden.
Welche Probleme ergeben sich durch den Brexit für Sie persönlich?
Tourneen sind schwieriger geworden. Der Zusammenhalt in Europa war so wichtig! Und hier bekommt man jetzt vieles gar nicht. Es gibt nicht mehr so eine große Auswahl in den Supermärkten. Das liegt an den Lieferschwierigkeiten. Aber Brexit ist das eine, dann kommt noch der Krieg in der Ukraine dazu. Alles passiert auf einmal, das macht es nicht leicht.
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