„Wir spielen heute das größte Konzert, das wir je in einer Halle gespielt haben!“ Henning May, Frontmann von AnnenMayKantereit, steht auf der Bühne der Wiener Stadthalle und verkündet das, was ein Meilenstein für das Kölner Quartett ist, unaufgeregt nüchtern und sachlich. Dass er sich darüber freut, ist nur daraus zu schließen, dass er dafür mit der eisernen Bandregel gebrochen hat, vor dem ersten Lied nie etwas zu sagen. Aber in dem Fall „hat es sich so ergeben“.
Der Fall ist: 14.000 Leute sind gekommen, um ihn und seine drei Mitstreiter zu sehen. Und das, obwohl AnnenMayKantereit vor nur neun Monaten mit der Tour zu ihrem zweiten Album schon einmal in Wien waren und damals drei Mal hintereinander die Open-Air-Arena ausverkauft haben.
Sie sind ein Phänomen, dieser tolle Drummer Severin Kantereit, der zurückhaltende Gitarrist Christopher Annen und der nicht im Bandnamen verewigte Bassist Malte Huck. Allen voran aber Henning May. 28 ist der schlaksige Sänger mit dem verträumten Blick und den strubbeligen Locken im Jänner geworden. Und schon jetzt hat er eine Stimme wie 100 Jahre Lotterleben im Whiskey-Rausch: Rau und tief, verlebt und ein bisschen verrucht.
May schreibt auch die Texte, singt viel von Liebe, die nicht ist, wie sie sein soll, vom Alleinsein, von seinen Sehnsüchten. Dabei bezieht er kaum Stellung, hat keine Botschaften, sondern beschreibt sachlich distanziert Alltagssituationen. Und das tut er so konsequent unpoetisch, dass man fast glauben möchte, die simplen Worte sind ein bewusstes Stilmittel und keine Phantasielosigkeit.
Aber es ist wohl genau diese Mischung, die das vorwiegend studentische und großteils weibliche Publikum heute in die Stadthalle gelockt hat: Da ist einerseits der Hauch von Gefahr, Abenteuer und Erlebtem, der in Mays Stimme mitschwingt und Freiheit transportiert, andererseits sein braves Weltbild, das eine kleine, heile, geordnete Welt favorisiert und so gleichzeitig Sicherheit für diese chaotische Zeit suggeriert.
Musikalisch wird das in Wien von einem Sound untermalt, der rockiger und kantiger ist, als man ihn von den CDs kennt. Geschickt wechselt das Quartett zwischen nachdenklichen Balladen wie „Du bist anders“ und Tanzbarem wie „Jenny Jenny“.
Kantereit spielt mal Drums, dann Congas oder die akustische Gitarre. May sitzt hinten am Klavier, zupft vorn die Ukulele und bläst zwischen den Gesangspassagen die Melodica. Immer wieder kommt auch der neue Trompeter hinzu, der gerade erst das zweite Mal mit der Band auftritt, aber auch für viel Abwechslung sorgt.
Ebenfalls sehr geschickt ist die optische und strukturelle Umsetzung des Konzertes an diesem Karriere-Wendepunkt, der den Sprung vom alternativen Club-Act zu Arena-Entertainern markiert: Die Bühne ist mehr tief als breit, hat einen kleinen Vorbau für das Set-Up für die Gitarren-Songs, dahinter den Platz für Klavier und Keyboards. Und die Satellitenbühne hinten in der Halleist keine fünf Quadratmeter groß.
So müssen AnnenMayKantereit nicht großen Raum mit großen Gesten und plakativen LED-Wänden füllen, sondern können - wie zu Beginn der Karriere als Kölner Straßenmusiker - weiterhin eng zusammenstehen und sich einfach auf das Musikmachen konzentrieren. Umrahmt wir das Club-Ambiente nur von einem schrägen Dach, von dem hunderte weiße Papier-Blätter hängen und als Projektionswand drei, vier schöne Effekte liefern. Mehr gibt es nicht.
Mehr braucht es aber auch nicht. Zumal nach „Hinter klugen Sätzen“ und „Weiße Wand“,nach zwei der besten Stücke der Band, mit den noch nicht auf CD erschienenen Songs „Für Pia“ und „Orangenlied“ (geschrieben für Mays Vater) zwei unerwartete Höhepunkte kommen, die - im Gegensatz zum Gros des Band-Repertoires - mit markanten Melodien, konkreten Aussagen und emotionalem Ausdruck punkten.
Auch wenn AnnenMayKantereit noch immer nicht die grandiosesten Musiker und die Kreativ-Genies sind, die Songs für die nächsten zehn Generationen schreiben - sie werden mit jedem Jahr besser, wachsen auch künstlerisch und schaffen es mühelos, 14.000 Leute zu begeistern. Denn als May dann - allein am Klavier, aber mit Schuhen - „Barfuß am Klavier“ anstimmt, herrscht in der Stadthalle eine Stimmung, die nicht mehr sehr weit von Grönemeyer-Dimensionen entfernt ist.
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