Die fünf Kinder wären die Zukunft gewesen
Am Anfang ist alles aus. Vier Buben stehen bei einer Mauer bei Birke und Kastanienbaum, hoch über einem Fluss. Das haben sie jeden Mittwoch- und Samstagabend gemacht. Vier Jahre. Der Heini, der Karl, der Franz, der Harry; und Manja war früher immer dabei.
Einer Fee glich sie.
Sie strahlte das Glück aus, obwohl sie sich kaum einmal ein Eis leisten konnte. Sie wollte trotzdem am liebsten hüpfen, hüpfen, hüpfen.
Manja hätte die Zukunft sein müssen.
Als die Nationalsozialisten marschierten und das jüdische Mädchen den Druck nicht mehr ausgehalten hatte, blieben die vier Zwölfjährigen allein bei der Mauer zurück.
Verstummt.
Am Anfang von "Manja" hat die Gegenwelt, die sie zärtlich aufgebaut haben, ihr Ende gefunden.
Nach diesem Vorspiel beginnt der Roman über die 1930er-Jahre in einer kleinen deutschen Stadt und über die Kinder mit ihrem Freudenschrei: "Wir sind nicht allein, wir sind fünf!"
Er beginnt, und damit überrascht "Manja" gleich ein zweites Mal, mit jenem Tag, an dem sie gezeugt wurden.
Alle am selben Tag.
Für die Frauen, die von ihren Männern lieber in Ruhe gelassen worden wären, war es kein schöner Tag.
Die Brut
Ganz unterschiedlich sind die Familien. Reich und arm. Menschenfreundlich und voll Hass. Antifaschist und Nationalsozialist.
Den Kindern ist egal, woher sie stammen. "Ich bin ein Freigeist!" ruft einer.
Auch Harry ist Jude. Deshalb versucht der Vater vom Franzi zu verhindern, dass sein Sohn zu den Freunden geht: "Die Brut wird ausgebrannt!" Aber Franzi ist pünktlich bei der Mauer.
Und Heini nimmt in der Schule bereitwillig zwei Stunden Karzer in Kauf, weil er in einem Aufsatz geschrieben hat: "Man muss aufhören, Menschen Helden zu nennen, die kein Mitleid und keine Rücksicht haben."
Wie lange halten die Kinder "das Schlechte" durch?
Das langsame Erwachsenwerden scheint für sie eher eine Drohung zu sein als Verlockung.
Positiv daran wäre vielleicht nur, dass man dann nicht mehr ganz so linkisch wäre und Manja endlich in lockerem Ton sagen könnte, wie wertvoll sie ist und wie lieb man sie hat.
Schaut alle in den Himmel über der Mauer: Die leuchtendsten Sterne der Kassiopeia, die ein W bilde wie Wahrhaftigkeit (oder doch wie Wahnsinn?), das sind die Fünf! Sie sind das Helle in der Welt.
Das Loch
Anna Gmeyner (1902– 1991) war keine Unbekannte. Sie ist eine Vergessene.
Zuerst hatte sich die gebürtige Wienerin als Dramaturgin bei Erwin Piscator in Berlin einen Namen gemacht. Dann wechselte sie und schrieb Drehbücher für Filme von G. W. Papst, mit Peter Lorre z. B. und Conrad Veidt.
"Manja" – da war Anna Gmeyner, Tochter eines jüdischen liberalen Arztes, längst im englischen Exil – erschien 1938 unter dem Pseudonym Anna Reiner im Amsterdamer Querido Verlag und erst 1984 in Deutschland.
Der Roman ist reich an Dialogen und bildhaft komponiert, man sieht die Wohnungen, sieht die Leute, die Mauer mit der Feuerstelle ... und er ist warm. So warm, dass man die Hakenkreuzfahnen an den Fenstern zunächst nicht wahrnehmen will.
Dass man "Nein!" ruft, wenn versucht wird, Zwietracht zu säen – und wenn schließlich Manja von einem Nazi vergewaltigt und als Hure hingestellt wird, "die kleine Buben in den Wald nimmt".
Was hatten die Kinder einst gespielt?
Sie gruben miteinander ein Loch, um nachzuschauen, ob auf der anderen Seite der Erde etwas lebt. Etwas Menschlicheres.
KURIER-Wertung:
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