Der unangenehme Beigeschmack der Retrowelle

Die Popkultur dient zunehmend zur Flucht vor dem Heute. Warum ist das niemandem peinlich?

In unübersichtlichen Zeiten kann es emotional hilfreich sein, alte Freunde um sich zu scharen. Es kann aber auch, im Übermaß, bedenklich werden – wie derzeit in der Popkultur.

Dort ist alles Alte wieder neu: Alte Filme werden neu gedreht, oder bekommen – wie alte Serien – eine Fortsetzung nach der anderen. Der Pop hat seinen Mut angesichts der permanenten Quotenmessung durch die Streamingdienste abgegeben: Man sammelt lieber Cent-Bruchteile als Innovations-Gutpunkte.

Dieser Tage im Kino: Das Gleiche wie in den 80er-Jahren. "Ghostbusters", "Star Trek" und die "Teenage Mutant Ninja Turtles". Im Fernsehen: Ebenfalls die 80er-Jahre, in Horror-Form ("Stranger Things") oder als Spionageaffäre ("The Americans").

Wir lassen die selben Bands so lange touren, bis sie sich kaum noch auf der Bühne halten können: Beim größten Festival des Jahres im Oktober in Kalifornien ist nur einer der auftretenden Musiker jünger als 70 Jahre.

Auch in der Hochkultur ist ähnliches Alltag: In den Konzertsälen zumeist die selben Melodien, in den Opern die selben Werke wie vor einem halben Jahrhundert.

Die allseitige Retro-Welle in der Kultur beginnt nun, neben der künstlerischen Fragwürdigkeit auch einen unangenehmen Beigeschmack an den Tag zu legen.

Sogar das Biedermeier haben wir bereits übertrumpft. Zog man sich damals angesichts schwieriger politischer Lagen lediglich ins Private zurück, haben wir diesen Rückzug noch einen Schritt weiter vollzogen: In der Popkultur sind wir wieder im eigenen Kinderzimmer gelandet, wo wir alle unsere alten Freunde aus Film und Fernsehen um uns scharen. Und diese auch notfalls wiederbeleben.

Starrer Blick

Dieser starre Blick auf vergangene Kulturtage ist wohlig, kuschelig, auch ein Millionengeschäft für Hollywood und den Rest vom Popbusiness – und wird von Historikern dereinst wohl als Symptom der Angst, oder zumindest als Reaktion auf eine Überforderung mit der Gegenwart gedeutet werden. Und auch als Delle im künstlerischen Schaffen.

Die Kultur, darunter auch die Popmusik, findet sich nun in einer Position wieder, aus der sie sich in regelmäßigen Abständen zu befreien versucht: Wenn uns die Kultur schon nicht so recht läutern, bessern, abgrenzen kann, dann muss sie uns zumindest mit Wellness-Faktor von der Last des Alltages ablenken.

Wellnesskultur

Die Kultur könnte ja auch aufrütteln, fordern, erweitern. Sie muss aber stattdessen massieren, gesund und heimelig machen, wärmen wie eine Hot-Stone-Massage.

So treffen ausgerechnet dieser Tage Studien ein, die den gesundheitlichen Nutzen der Kultur in den Vordergrund stellen. Konzertbesucher sind demnach zufriedener mit ihrem Leben; und wer liest, lebt gar länger. Um ganze zwei Jahre, stellten Forscher der Yale University fest (aber es fordert Einsatz: 3,5 Stunden pro Woche heißt es ran ans Buch).

Identitätssuche

Man könnte auch anders reagieren als mit dem Blick zurück: Viel wird gerade jetzt von "unserer Kultur" und ihrer identitätsstiftenden Kraft geredet. Eigentlich sollten das also gute Zeiten sein für jene Kulturformen, die sich offenen Visiers mit dem Heute auseinandersetzen: Für zeitgenössische Musik, zeitgenössisches Theater, moderne Oper und jenen Pop, der im Heute lebt und nicht im Gestern.

Für junge Bands und innovative Geister.

Jene Künstler und Werke also, die für die Gegenwart und ihre Fragen sensibilisieren. Mehr Mut: Das wäre doch ein gutes Vorhaben für die kommende Saison – auch für das Publikum.

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