Auch andere kommen auf irrwitzige Ideen. Aber nur Simon Mraz, seit 2009 Leiter des österreichischen Kulturforums in Moskau, setzt sie auch um: Er organisierte Kunstausstellungen im Planetarium von Nischni Nowgorod und auf dem Atomeisbrecher Lenin in Murmansk, im gigantischen Observatorium bei Nischni Archys, in der einst geschlossenen Stadt Krasnojarsk und in Birobidschan, dem Zentrum des Jüdischen Autonomen Gebiets.
Am liebsten würde er unentwegt zu peripheren Orten vordringen. Heuer aber blieb der Kunsthistoriker, Jahrgang 1977, in Moskau: Er konzipierte nicht bloß eine Ausstellung, er realisierte unter dem Titel „Na Rajone – Beyond the Center“ zusammen mit lokalen Institutionen gleich ein (kleines) Festival. Und wieder ging es vornehmlich um die unscheinbare Peripherie.
Vor gut zwei Jahren hatte Mraz erfahren, dass die Stadt alle Kinopaläste zu verkaufen gedachte. 39 Stück, errichtet zwischen den 30er- und den 80er-Jahren, also in der sowjetischen Zeit. Motiviert von Mraz fotografierte Vasilena Gankovska die Gebäude im Juni 2018 ab. Und sie porträtierte sie mit Filzstiften. Die Arbeiten in einem der damals schon leerstehenden Kinos zu zeigen, behagte dem neuen Eigentümer allerdings nicht. Denn er wollte die Bürgerproteste nicht noch anheizen.
Nun sind die Filmpaläste (mit einer unter Denkmalschutz stehenden Ausnahme) Geschichte: Statt ihrer werden multifunktionale Zentren, sprich: Shopping Malls, errichtet, alle nach dem gleichen Raster konzipiert. Nur die großen Namen überleben, darunter „Aurora“, „Orion“, „Erleuchtung“ und „Sputnik“.
Eine Art Epitaph dominierte die Themenausstellung „In situ“ im Kulturzentrum CCI Fabrika, einer ehemaligen Papierfabrik, die auch die Atelier-Stipendiaten des Bundeskanzleramtes beherbergt: Gankovska pinnte ihre Zeichnungen an die Wand, auf dem Tisch lagen die Renderings der neuen Einkaufszentren.
Mit der Stadt beschäftigten sich auch die weiteren Arbeiten. Dima Grin pflanzte im öffentlichen Raum Unkraut in Turnschuhen und anderen Gegenständen. Und Kirsten Borchert fiel auf, dass alle alten Häuser, die restauriert werden (das sind enorm viele!), mit Planen verhängt sind, die schematisch die jeweilige Fassade veranschaulichen. Die Künstlerin kreierte nun solche für ein ehemaliges Heizhaus – allerdings mit abstrakten Mustern.
Trabantensiedlung
Nicht realisieren ließ sich natürlich eine 12,5 Meter hohe Replik des berühmten Schuchow-Radioturms. Mit ihr wollte Hannes Zebedin auf die hohe Qualität der fünfstöckigen Chruschtschowka-Wohnbauten der 1950er-Jahre hinweisen, die nun vermehrt abgerissen werden, um höhere Kubaturen errichten zu können – gegen den Willen der Bewohner. In der Schau stellt Zebedin daher ein simples Holzmodell des Turms mehreren gleich hohen Fotos der Gebäude gegenüber.
Aufgrund der irre hohen Mieten im Zentrum sind viele Menschen gezwungen, eine Wohnung in den trostlosen Trabantensiedlungen zu nehmen. Eine der Schlafburgen ist Nowo-Molokowo, die der Immobilienentwickler Dmitri Aksjonow, Eigentümer der Kunstmesse „viennacontemporary“, in der Nähe des Flughafens Domodedowo angelegt hat. Hier möchte man nicht einmal begraben sein. Aber zumindest gibt es ein Kulturzentrum – in der Größe einer Einzimmer-Normwohnung, „Odnuschka“ genannt.
Und Aksjonow bekennt sich auch zu Kunst am Bau: Mraz lud drei österreichische und drei russische Künstler ein, Ideen für Skulpturen zu entwickeln. Die Modelle wurden in Leerständen präsentiert, die Bevölkerung durfte in der Bibliothek abstimmen. Gewonnen hat das Lieblingsprojekt von Aksjonow, ein riesiges Blatt aus Beton von Jakob Jascha Schieche, auf dem man sich in die Sonne legen und vielleicht von einer besseren Welt träumen kann.
Ziemlich praktisch, aber wohl ein wenig zu subversiv war der schiefe Selfstorage-Turm des russischen Kollektivs ZIP: Auf sechs vergitterten Ebenen hätten die Einwohner all das unterbringen können, was sie aus Platznot auf ihren Balkonen lagern.
Lenin- und Stalin-Büsten
Dem Phänomen Selfstorage hatte sich das Wien Museum im Frühjahr unter dem Titel „Wo Dinge wohnen“ gewidmet. Die für die Schau entstandenen Fotos und Videos von Klaus Pichler präsentierte Mraz nun an einem abenteuerlichen Ort, auf dem überbordenden Friedhof der ramponierten Gegenstände, etwas hochtrabend als „Museum für industrielle Kultur“ bezeichnet. Der pensionierte Fahrzeugtechniker Lew Schelesnjakow sammelt seit Jahrzehnten tatsächlich alles – von Geschützen und Flugzeugen über Wasserspender und Lenin- bzw. Stalin-Büsten bis zu Telefonzellen und Draisinen. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus.
Noch eine Idee aus Wien griff Mraz auf: Unter dem Titel „am rand : die stadt“ begann das Filmmuseum im Herbst 2017, private Laufbilder vergangener Jahrzehnte zu sammeln, die Wien an den Rändern porträtiert oder von dort aus in den Blick nimmt. Unter der Leitung von Gustav Deutsch und Hanna Schimek entstehen Kompilationen.
Im Kino „Fackel“ (integriert in ein Gebäude und daher als Shopping Mall ungeeignet) präsentierten Absolventen der Dokumentarfilm-Schule die Collage „I am Moscow“. Man sieht Aufnahmen aus 1958, als sich die USA in Moskau mit Rock’n’Roll, Waschmaschinen und anderen Errungenschaften präsentierten, über die man in Russland echt Baumstämme glotzte. Es gibt aber auch eine spitze Bemerkung über Wladimir Putin, was beim Kulturamt wohl nicht so gut ankam.
Traurige Selbstporträts
Noch mehr Skepsis rief Mraz mit der Präsentation des jungen Künstlers Pasmur Rachuiko hervor, der seine traurigen Selbstporträts in Polizeiuniform mit Stadtansichten (Metro, Kreml-Mauern), Waffen, Burka-Trägerinnen und Tieren, manche Zwiebelturm-bekrönt, kombiniert (siehe Titelbild).
Die Ausstellung fand im Gogol Center statt, einem hippen, von der Stadt Moskau finanzierten Theater. Direktor ist nach wie vor Kirill Serebrennikow. Er sprach bei der Eröffnung, ein Interview aber lehnte er ab. Denn sein Fall wird nun doch weiterverhandelt – von einer neuen Richterin. Man wirft dem Starregisseur vor, staatliche Fördergelder in Millionenhöhe unterschlagen zu haben. Serebrennikow bestreitet dies. Und hinreichend belegt werden konnten die Anschuldigungen auch nicht.
Bei der Eröffnung trug Serebrennikow, der lange unter Hausarrest stand, ein Shirt mit der Aufschrift „Samizdat“. Darunter versteht man die Verbreitung von nicht systemkonformer, „grauer“ Literatur über nichtoffizielle Kanäle. Auch wenn man ihn mürbe zu machen versucht: Er wird nicht klein beigeben.
Und Mraz wird weiter irrwitzige Projekte erfinden, die sich kein anderer umzusetzen trauen würde. Als Schauplätze schweben ihm das Franz-Josef-Land und die einstige Schreckensinsel Sachalin vor, über die einst Tschechow berichtete ...
Die Moskau-Reise erfolgte auf Einladung des Kulturforums mit Sponsorgeldern.
Kommentare