Am Meer sitzen und endlich vergessen

Jean Marie Gustave Le Clezio
Zwei Novellen des Nobelpreisträgers Le Clézio über einen Neubeginn.

1.) Ein Mann sitzt am Pazifik, er hat keine Hoffnung außer jener: Der Sturm möge seine geliebte Mary zurückbringen, irgendwie.

Und seine Schuld wegblasen, das wäre auch gut, wenn der Sturm das machen könnte; so denkt der Mann am Meer, und er sinniert: Der Ozean ist Vergessen.

2.) Eine Frau sitzt am Atlantik. Der Sturm macht die Wellenberge gelb und bringt Gerüche der Kindheit.

Den Geruch nach unbegreifbarer Gewalt.

Singen

"Sturm" heißt der Titel eines Buchs von Jean-Marie Gustave Le Clézio mit zwei Novellen. Mit Krisenerzählungen, die miteinander verbunden sind (Vergewaltigung, starke Frauen , kein Vater bzw. keine Mutter), aber in verschiedenen Farben geschrieben.

Menschlich und wunderbar und fad: Mit diesen Eigenschaftswörtern wurden die rund 40 Romane Le Clézios bedacht, als er 2008 den Nobelpreis bekam. Wenige außerhalb Frankreichs hatten vorher seine Bücher gelesen, und nach der Auszeichnung waren es im deutschen Sprachraum auch nicht besonders viele.

Denn er singt so.

Anstatt zu einem Ende zu kommen, gibt er noch Töne von sich, die aus der Mode gekommen sind.

In "Sturm" sind sie seltener, aber man muss ständig darauf gefasst sein: "Die Nacht legt sich über die Insel. Jeden Abend, Lache für Lache, Spalte für Spalte. Die Nacht steigt aus dem Meer auf, dunkel und kalt, verschmilzt mit der Wärme des Lebens ..."

Eh schön.

Tauchen

Le Clezio, 76, ist weit gereist. Ferne Orte baut er ein, wenn er sich – sehr ästhetisch – der Frage widmet: Dürfen Erinnerungen verhindern, ein normales Leben zu führen?

2.) spielt teilweise in Nigeria, wo eine Frau ihre Wurzeln sucht und einen Neuanfang versucht. Le Clezio wuchs in Nigeria auf – sein Vater, ein Brite, arbeitete dort als Tropenarzt.

Und 1.) kennt er auch, die südkoreanische Insel Udo mit den berühmten "Seefrauen", die Seeohren und Muscheln vom Meeresgrund kratzen. Den Mann, der sich dorthin begibt (wie in eine Sackgasse geht er hinein), den rettet eine 13-Jährige.

Erinnerungen sollen nicht dürfen.


J.M.G. Le Clézio:
„Sturm“
Übersetzt von Uli Wittmann.
Kiepenheuer
& Witsch Verlag.
249 Seiten.
20,60 Euro.

KURIER-Wertung: ****

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