Agnes Hussleins letzte Ausstellung in der Heidi Horten Collection

Stacheldrahtlinien als Grenzen und Migrationsrouten und Linienschrift von Brigitte Kowanz (
Jo eh, ist man geneigt, zu denken. „Die Linie“ in der Kunst – geht es noch breiter gefasst? Kaum eine Kunst kommt schließlich ohne Linie aus. Kann man da eine überzeugende Auswahl, die nicht beliebig ist, für eine Ausstellung treffen?
Man kann. In der Heidi Horten Collection in Wien ist es Kuratorin Verónique Apburg gelungen, einen kurzweiligen Parcours durch die vielen Aufgaben und Facetten der Linie in der Kunst zu gestalten. Er beginnt mit einem Bild von Agnes Martin („Untitled No.1“, 1977), das tatsächlich nur 18 gerade Linien zeigt. In die sich aber rasch einiges hineininterpretieren lässt: Erinnern sie an (leere) Notenzeilen? Oder doch eher an die To-Do-Liste, die man wieder nicht geschrieben hat?
Wie dynamisch Linien sein können, zeigen Arbeiten von Vera Molnar, die eine Linie durch schlichtes Diagonal- oder Senkrechtstellen in Bewegung setzt. Die ausgefeiltere Variante hängt direkt daneben – Marc Adrians Streifen hinter Drahtglas ändern beim Vorbeigehen ihre Position und werden auch bunter. Bei Dieter Roths „Dreh-Rasterbildern“, drehenden Tellern, die übereinander rotieren, ergeben sich immer neue hypnotische Muster. Ähnlich wie bei Marcel Duchamp, der sich mit seinen Rotoreliefs direkt dazu gesellt.
Arbeiten von Roy Lichtenstein und vor allem Keith Haring zeigen, dass die Pop-Art die Umrisslinie gern ein bisschen dicker aufgetragen hat, während „Nomade in 9 Kontinenten“ von Constantin Luser veranschaulicht, dass die Vervielfachung von Strichen auch zur Dekonstruktion führt. Noch eindrücklicher, weil dreidimensional, ist das bei Anthony Gormleys „Quantum Cloud“. Unzählige Edelstahlstaberl fügen sich zu einer Figur, die selbst wieder einer stacheligen Explosion gleicht.
Zaun auf Samt
Jener Teil der Schau, der sich Kunst widmet, die die Linie selbst zum Thema macht (im Obergeschoß), ist besonders gelungen. Raumgreifend ist eine Arbeit der Inderin Reena Saini Kallat. Es ist eine Weltkarte, bei der die Kontinente mit Stacheldraht verbunden sind. Wo wird eine Linie gezogen, werden Grenzen überschritten? Assoziationen, die auch bei einem auf Samt eingebrannten Maschendrahtzaun von Giulia Piscitelli, der „im Weg“ hängt, aufgegriffen werden. Ebenso bei „Ballad of Fear“ von Kiluanji Kia Henda, Schwarz-Weiß-Fotos von der Küste Siziliens in Richtung Afrika, über die ein Gittermuster gelegt wurde.
Linien müssen nicht mit Pinsel oder Stift hergestellt werden, mit einer an die Freddy-Krüger-Horrorfilme erinnernden Arbeit ist Lucio Fontana vertreten: Er hat ein Messer verwendet. Tatsächlich (nur) eine Linie hat Piero Manzoni gemalt, er hat dieses ziemlich lange „Gemälde“ aufgerollt in Dosen verkauft. Die Schau zeigt ein ironisches Video über diese Aktion und einige der Rollen. Mit Humor nähert sich auch Franz West dem Thema an: Er gibt der „Sinnlosschleife“ von Ludwig Wittgenstein wieder Sinn und sogar Funktion – macht daraus eine rosa Garderobe.
Minimalistisch, aber effektvoll ist die Linie, die sich dank Dan Flavin in eine Ecke stellen lässt: in Form einer Neonröhre. Rosemarie Castoro zog mit Aluminiumtape Grenzen in den Raum und machte so in den 1960er- und 70er-Jahren auch darauf aufmerksam, wenn sie die einzige Frau in einer Ausstellung war.
Liniengewirr
Im Kabinett, in dem die Verbindung von Linie und Schrift etwa bei Cy Twombly und Basquiat beleuchtet wird, ist eine Drawing Machine von Angela Bulloch bei der Arbeit zu beobachten. Sie wird die ganze Ausstellungsdauer ein dichtes Liniengewirr kreieren – das am Ende wieder übermalt wird.
Linien, die ein Raster ergeben, sind eindrucksvoll in einer Arbeit von François Morellet vertreten: In einem Becken voll schwarzem Wasser spiegelt sich ein Neonraster. Wenn ein Hebel bewegt wird, gerät das Wasser in Bewegung und das Gitter wird poetisch verzerrt.
Ein ganzes Meer an roten Linien dominiert die Ausstellung: In unzähligen roten Fäden, die von der Decke hängen, verfangen sich Zetteln. Es sind 1500 Dankesbriefe, die die Heidi Horten Collection im Auftrag von Künstlerin Chiharu Shiota gesammelt hat. Die Idee kam ihr nach dem Tod ihres Vaters, der ihr zu viele ungesagte Worte bewusst gemacht hat. Auf den „eingefangenen“ Briefen findet sich laut Kuratorin Apburg Dank an Eltern, Kinder, Ärzte, Haustiere - aber auch an die Dankbarkeit selbst. Eine empfehlenswerte Ausstellung, die die Amtszeit der Gründungsdirektorin Agnes Husslein würdig beschließt.