Spannung & Emotion: Expressionismus in der Heidi Horten Collection

Ausstellungsansicht: Experiment Expressionismus. Schiele meets Nosferatu.
Mitreißend! Paralysierend! Dramatisch! Aufgerissene Augen, expressive Hände und eine starke Körpersprache: In der Heidi Horten Collection entfaltet sich mit der Ausstellung Experiment Expressionismus. Schiele meets Nosferatu ein multimediales Zusammenspiel bewegter und bewegender Bilder – von Egon Schieles expressiven Darstellungen über Anton Josef Trčkas Fotoporträts bis zu F. W. Murnaus düsterem Stummfilm. Eine ergreifende Zusammenschau für Kunstliebhaber:innen, Fotograf:innen und Cineast:innen.
Schaurig schön: Horrorszenen im Museum
Der legendäre Stummfilm Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens von 1922 nutzt die expressive Gestik als zentrales Stilmittel: Nosferatu alias Graf Orlok (gespielt von Max Schreck) bewegt sich als zwielichtige Gestalt mit ausgestreckten, klauenartigen Fingern durch den Raum. Besonders ikonisch ist die Szene, in der sich sein Schatten an der Wand entlang tastet und sich seine Hand schließlich über das Herz seiner schlafenden Angebeteten legt – ein Moment fesselnder Bedrohung, allein durch die Choreografie der Hände erzeugt.

Zwei Medien, ein Ausdruck: Lilly Steiners Lilian Gaertner (1927) und Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu (1922) sprechen durch Körperspannung, Augenausdruck und Handgestik die gemeinsame Sprache des Expressionismus.
Reizend und rührend: So fesselnd war Kunst noch nie
Was im Stummfilm – neben ausdrucksstarken Gesten – durch Licht und Schatten erzählt wird, geschieht in der Malerei durch Linie und Farbe. In beiden Medien werden die Hände zur Projektionsfläche innerer und äußerer Spannungen: Sinnbilder einer Epoche im Umbruch, geprägt von existenzieller Angst, politischer Unsicherheit – zugleich aber von einem Aufbruch in Freiheit und dem Ringen um eine neue Identität. „In keiner anderen Epoche war die Bedeutung der Hand als Spiegel innerer Zustände so intensiv wie im Expressionismus“, lässt Agnes Husslein-Arco, Direktorin des Privatmuseums, bei der Führung durch die aktuelle Ausstellung wissen.

Conrad Veidt als Orlac in Robert Wienes expressionistischem Stummfilm Orlacs Hände (1924) trifft in der Heidi Horten Collection auf die eindringlichen Frauenporträts In der Loge und Drei Frauen (1915) von Helene Funke.
Expressionistische Handschriften von Künstler:innen und Filmstars
Insbesondere Egon Schiele nutzte die Hand als zentrales Ausdrucksmittel seiner Kunst. „Die Hand wird in dieser Zeit zu einem der ausdrucksstärksten Medien überhaupt – in der Malerei, der Fotografie, im Film“, betont Husslein. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das auch in einer berühmten Fotografie von Josef Anton Trčka, in der Schieles markant verschränkte Hände ins Zentrum rücken. „Und wenn man seine Bilder betrachtet: überall Hände! Denken Sie an Poldi Lodzinsky oder an das Porträt seines Malerfreundes Erwin Osen, in dem Schiele eine ganz ähnliche Geste aufgreift“, ruft die Kunsthistorikerin in Erinnerung.
Aber nicht nur in der Malerei und Fotografie: Auch Schauspieler wie Conrad Veidt, einer der großen Stars des expressionistischen Films, arbeiteten intensiv mit expressiven Handhaltungen. „Man beeinflusste sich gegenseitig, entwickelte die Gestik weiter, nahm voneinander auf“, so Husslein. „Die Wechselwirkungen zwischen bildender Kunst, Film und Fotografie sind in der Ausstellung deutlich spürbar.“

Egon Schiele setzte Hände in seinen Werken als expressives Ausdrucksmittel ein, wie hier im Selbstbildnis mit Pfauenweste aus dem Jahr 1911.
Kunst in der Krise und einzigartige Experimente
„Die Ausstellung zeigt die Empfindungen der Menschen nach dem Krieg. Es war eine gesellschaftlich wahnsinnig herausfordernde Zeit. Und genau das berührt heute besonders: Denn auch wir befinden uns wieder im Umbruch. Es gibt wieder Krieg – nicht weit von uns entfernt. So wie damals alles im Umbruch war, spüren wir heute ähnliche Erschütterungen“, hält Husslein fest. Vor diesem Hintergrund hat sich die Direktorin des Privatmuseums bewusst für das „Experiment Expressionismus“ entschieden – eine Kunstrichtung, die Heidi Horten „ganz besonders geschätzt“ und gezielt in ihr „tägliches Lebensumfeld“ integriert hat. Nun erhält sie eine Bühne, wie sie ganz in ihrem Sinne gewesen wäre.
Ausgehend vom herausragenden Bestand der Heidi Horten Collection an Werken des deutschen Expressionismus wurde die Ausstellung zu einem künstlerischen Dialog mit dem österreichischen Expressionismus und einem femininen Fauvismus erweitert sowie durch internationale und private Leihgaben ergänzt. Um das Spektrum zu erweitern, integrierte das Kuratoren-Team rund um Agnes Husslein-Arco, Rolf H. Johannsen und Roland Fischer-Briand auch Fotografie und Film – ein multimedialer Zugang, der in dieser Form einzigartig ist.

Triebe, Ängste und Traumata: Sigmund Freuds Theorie des Unbewussten prägte den Expressionismus. Egon Schieles Prozession (1911) verdichtet diese inneren Abgründe in eindrucksvoller Form.
Egon Schiele und Fritz Lang im Kino
Wenn die multimediale Zusammenschau in der Heidi Horten Collection das Tor zur Welt des Expressionismus öffnet, treten ausdrucksstarke Gemälde aus Deutschland und Österreich – etwa von Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein, Emil Nolde, Herbert Boeckl, Richard Gerstl, Oskar Kokoschka, Egon Schiele oder Helene Funke und Lilly Steiner – in einen spannenden Dialog mit fesselnden Stummfilmklassikern der 1920er-Jahre: Murnaus Nosferatu, der Urvater aller Leinwand-Vampire, erwacht in bislang nie gezeigten Plakatentwürfen zur Bewerbung des Films.
Und Metropolis, Fritz Langs visionäres Monumentalwerk, flimmert nicht nur über die Leinwand, sondern entfaltet mit nachkolorierten Kinoaushangfolien und dem wohl teuersten Filmplakat der Welt seine ganze Strahlkraft – mit der Maschinenfrau Maria als Ikone einer Zukunft, die längst Wirklichkeit geworden ist: „Kino ist ein Kraftwerk der Emotionen“, meint Roland Fischer-Briand, Leiter der Fotosammlung im Theater-Museum und Gastkurator in der Heidi Horten Collection treffend zur Ausstellung. „Man geht ins Kino – und wie in kaum einer anderen Kunstform kann man sich in den Kopf einer anderen Person hineinversetzen. Das Tolle ist, dass man im Kino in einem geschützten Raum ist, während gleichzeitig auf der Leinwand die furchtbarsten Sachen passieren können“, macht der Kurator Lust auf die emotionale Wucht und psychologische Tiefe des expressionistischen Films.
In eigenen Kabinen werden daher Auszüge aus den Stummfilmen gezeigt, die auch nach über 100 Jahren nichts von ihrer Spannung verloren haben: Die verzerrten Gesichter, die übersteigerte Gestik und die extremen Licht-Schatten-Verhältnisse entführen in unheimliche Welten wie etwa in Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) von Robert Wiene, wo der schlafwandelnde Cesare zwischen Traum und Wahn agiert.

Stummfilm mit Live-Musik: Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens, mit Live-Begleitung von Hugo Max an der Bratsche
Termine: Mittwoch, 10. Juli und Donnerstag, 21. August, jeweils um 18 Uhr
Tickets: € 25,– (inkl. Eintritt und Führung) / mit Jahreskarte € 20,–
Ort: Atrium der Horten Collection

Albin Graus geheimnisvolle Aquarellentwürfe zu den Plakaten für Nosferatu entfalten in der Heidi Horten Collection erstmals in Österreich ihre düstere Magie.
Kunst und Kino: Experiment geglückt!
Die Übergänge zwischen Film- und Maler-Leinwand sind in der Ausstellung fließend. „Die enge Wechselwirkung zwischen bildender Kunst und Kino eröffnet neue Perspektiven auf beide Gattungen und unterstreicht den bedeutenden kulturellen Einfluss Wiens auf die expressionistische Kunst und den Film”, fasst der Film-Experte Roland Fischer-Briand zusammen.
Wer also wissen möchte, was Egon Schiele mit Nosferatu verbindet, wie sich österreichischer vom deutschen Expressionismus unterscheidet, was wilde Bestien mit expressionistischer Kunst zu tun haben, welche nackten Tatsachen Richard Gerstl auf die Leinwand gebracht hat und welche versteckten Farbcodes es im schwarz-weißen Stummfilm gibt, sollte ganz schnell eine Begleitung an der Hand packen und sich von der eindrucksvollen Sonderausstellung „Experiment Expressionismus“ in der Heidi Horten Collection reizen und rühren lassen. Rund 170 Werke – von Gemälden und Aquarellen bis hin zu Filmplakaten, Szenenfotos und Filmausschnitten – veranschaulichen die Vielfalt der expressiven Strömung und gehen definitiv unter die Haut. Ein intensives Kunsterlebnis – unmittelbar, eindringlich und am Nerv der Zeit.
Experiment Expressionismus. Schiele meets Nosferatu
Ort: Heidi Horten Collection, Hanuschgasse 3, 1010 Wien
Dauer: bis 31. August 2025
Öffnungszeiten: täglich (außer Dienstag) von 11 bis 19 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr
Tickets: direkt vor Ort oder online buchbar
Web: hortencollection.com
Führungen durch die Ausstellung: Jeden Sonntag um 14.30 und 15.30 Uhr