Aber die Vergangenheit hat mit uns nicht abgeschlossen

Juan Marsé: Wie eine Fotografie aus dem Warschauer Ghetto in Barcelona lebendig wird ...

Was hat er denn? Einmal verbrennt die Sonne "das Gesicht der Niederlage", ein anderes Mal fällt sie "strafend auf den Balkon" oder rückt nicht zum Gehsteig vor ...

Dabei hat der in Spanien berühmte Schriftsteller Juan Marsé doch ganz anderes im Sinn als Sonnenbeobachtungen. Mut will er zusprechen (unter anderem), nicht immer nur zu glauben, was man sehen kann.

In einem armen Teil von Barcelona schießt die alte aus Polen stammende Frau Pawlikowska, eine ehemalige Varietétänzerin, vom Balkon ihrer Wohnung dem 2. Stock Papierflieger in die Tiefe. Manchmal auch Kekse.

Oder eine Banane.

Sie sagt: für die Kinder ...

Den 15-jährigen Bruno aus dem Parterre bittet sie, die Flugzeuge einzusammeln und ihr zu bringen, damit sie sie noch einmal fliegen lassen kann.

Und auf die Papierln schreibt sie: "Jutro chleb. Dziś czekolada." Morgen Brot. Heute Schokolade.

Frohe Botschaften.

Und sie sagt: Fliegen, das bedeutet träumen ...

Foto am Ende

Da rollt der Bruno mit den Augen. Denn sein Vater ist auch so ein – Spinner wie Frau Pauli (so wird sie genannt). Ein Hippieveteran, der nie da war, um nur ja keine Verantwortung tragen zu müssen. Klarinette spielt er und bettelt.

So werden wir langsam, ganz langsam gut vorbereitet auf den zweiten Teil dieser kleinen großen Novelle des mittlerweile 83-jährigen Autors. "Gute Nachrichten auf Papierfliegern" gehört, obwohl nur 90 Seiten stark, zum Gewaltigsten, das Marsé geschrieben hat.

Das einleitende Zitat zeigt den Weg:

"Wir mögen mit der Vergangenheit abgeschlossen haben, die Vergangenheit aber nicht mit uns."

Und hat man verstanden, und ist man erschüttert, so sieht man ganz am Ende noch eine Fotografie. Die Erzählung geht nahtlos in eine historische Aufnahme aus dem Warschauer Ghetto, Sommer 1943, über.

Kinder in der Straße namens Ulica Nowolipie. Ohne Papierflieger. Ohne Banane. Heute wachsen dort Bäume aus den Gräbern.

Juan Marsé:
„Gute
Nachrichten auf
Papierfliegern
Übersetzt von
Dagmar Ploetz.
Wagenbach
Verlag.
96 Seiten.
15,40 Euro.

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